Ist man zur Überzeugung gelangt (ohne hier nun zu fragen, wie man zu einer solchen Überzeugung gelangt), dass in einer Organisation vermehrt Selbstorganisation möglich sein soll, so stellt sich die Frage, welches der Modelle die unter Selbstorganisation segeln man verwenden will. Die publizistische Praxis ist da schnell zur Hand und bietet Agil, Scrum, Soziokratie, Inventing organizations nach Laloux, kollegiale Führung und einiges mehr an. Doch welches dieser Modelle eignet sich wirklich?
Vor dieser Frage stand ich auch vor drei Jahren, nachdem mich ein Geschäftsführer angefragt hat, was ich ihm denn empfehlen würde. Ich hatte vorher viele Jahre auf der Basis des Modells von Fritz Glasl Organisationsentwicklung (siehe bspw. Glasl/Kalcher/Piber 2014) beraten, u.a. auch die Organisation, von der noch die Rede sein wird. Da ich wusste, dass diese Organisation bezüglich Mitarbeitenden einen sehr partizipativen Ansatz lebte und zu dieser Zeit eben das Buch von Laloux erschienen war, schlug ich dem Co-Geschäftsführer vor, dieses Buch in seinem Sabbatical zu lesen. Er war so begeistert – deutlich mehr als ich -, dass er sogleich loslegte und seine Organisation zu verändern begann.
Nur, wie tut man dies? Der Ansatz von Laloux (2015) hat einen extrem hohen Wert in der Community der Selbstorganisation erreicht, da er dem Thema einen publizistischen Rahmen gegeben hat. Wie Laloux selber sagt, führt er in seinem vielbeachteten Buch „Reinventing Organization“ zehn empirische Anekdoten von Unternehmen an, die selbstorganisiert funktionieren. Er hat meines Wissens über 40 Organisationen untersucht und dann zehn als exemplarisch für die Umsetzung der Selbstorganisation erachtet. Dass er von bloss von empirischen Anekdoten spricht, finde ich sehr ehrlich und gefällt mir gut. Er beschreibt Organisationen, die selbstorganisiert sind und versucht herauszuarbeiten, wie sie dies konkret umsetzen.
Leider beschreibt er nur in Andeutungen, wie die Organisationen dorthin gelangt sind. Das hätte uns damals sehr interessiert. In den nun folgenden Gesprächen mit dem Co-Geschäftsführer stellte sich mir als Forschender die Frage, was ist denn der wissenschaftliche Hintergrund hinter der Selbstorganisation und wie könnten Prozesse der Einführung aussehen?
Braucht es überhaupt eine Theorie oder könnte man einfach sagen, wenn es wirkt, dann wirkt es? Wahrscheinlich wird es einigen von Ihnen als Praktikerinnen und Praktikern so gehen, als Forschender mag ich mich nicht damit begnügen. Dazu greife ich gerne auf Niklas Luhmann zurück, der meinte, dass man für den Anspruch, wissenschaftlich Sachverhalte zu beobachten und zu beschreiben, die Worte des täglichen Lebens nicht genügen. Man muss Begriffe bilden, welche sich in der Wortwahl von dem Sprachgebrauch des täglichen Lebens häufig unterscheiden. Denn beobachten und beschreiben kann eine Wissenschaft nur das, was sie mit Begriffen bezeichnen kann. Die neuen Begriffe schaffen Freiheiten, die im Effekt zur Multiplikation der Phänomene führen, und zugleich bergen diese aber Schwierigkeiten für die weitere Verständigung. Darin liegen Chancen der Innovation, aber auch Gefahren einer Fehlinvestition, die den Aufwand nicht lohnt (vgl. Zängl 2019).
Als erstes zum Begriff der Selbstorganisation: „Selbstorganisation“ erfährt aktuell breite Resonanz, was er wahrscheinlich seiner breiten Anwendbarkeit in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen verdankt. Physik, Biologie, Meteorologie, Neurologie, Philosophie, Kognitionsforschung, Soziologie, Ökonomie: alle beschäftigen sich mit dem Phänomen „Selbstorganisation“. Dabei wird man fast immer zugleich auf die interdisziplinäre Gültigkeit und Anwendbarkeit bestimmter Grundprinzipien der Selbstorganisation verwiesen und die engen Grenzen des eigenen Fachgebietes werden regelmässig überschritten.
Was ist kennzeichnend für Selbstorganisation?
Der gemeinsame Nenner, auf den sich viele Überlegungen im Zusammenhang mit Organisation bringen lassen, ist die Frage nach der Entstehung von Ordnung, einem der Grundprinzipien von Organisation. Ordnung ist für unser Denken und Leben notwendig und wird häufig auch mit Begriffen wie „Vorhersehbarkeit“, „Gesetzlichkeit“, „Determination“, „Wiederholung“ oder „Muster“ beschrieben. Riedl (Riedl, 1990, S. 25) meint: „Eine Welt ohne Ordnung wäre weder erkennbar noch denkbar“ (vgl. Zängl 2019).
Speziell ist, dass in Prozessen der Selbstorganisation höhere strukturelle Ordnungen erreicht, werden, ohne dass äussere steuernde Elemente vorliegen. Selbstorganisation bewirkt durch die kooperative Selbststrukturierung organisatorisch langfristige Veränderung.
Kommen wir zurück auf meinen persönlichen Einstieg in die Selbstorganisation. Laloux spricht zurecht von «empirischen Anekdote» wenn er von seinen Beobachtungen spricht und impliziert dadurch, dass er nicht den Anspruch einer Theorie der Selbstorganisation hat. Leider versucht er sich dann an einem theoretischen Rahmen, in dem er zum Beispiel im Vorwort Ken Wilber zu Wort kommen lässt und im Weiteren immer wieder auf entwicklungstheoretische Ansätzen wie die spiral dynamics. So versucht er zu begründen, dass in einer Art von Evolution Entwicklungsstufen durchlaufen werden. Er macht das aber nicht evolutionär, also in Form einer zufälligen Entwicklung, denn unter «zufälliger Entwicklung» versteht man, dass die Entwicklung nicht durch das System (oder gar eine übergeordnete Einheit) koordiniert stattfindet. Stattdessen beschreibt er in seinem Phasenschema eine vorhersehbare, resp. planbare Entwicklung (vgl. Zängl 2019). Aus meiner Sicht zurecht wird an diesen Konzepten bemängelt, dass diese Entwicklungsschemata vorgeben, welche behaupten, es laufe immer so ab. Sie sind monokausal und blenden mit ihrem globalen Gültigkeitsanspruch lokal relevante Gegebenheiten aus.
Diesen Vorwurf kenne ich bereits aus meiner Erfahrung in der Organisationsentwicklung. So basiert der Ansatz von Glasl auf Entwicklungsstufen, welche sich zwar als Reflexionsbasis der aktuellen Verfasstheit eignen, aber weniger für eine generelle Beschreibung des Funktionierens von organisationalem Wandel.
Welche Theorie eignet sich für den Ansatz der Selbstorganisation? Und was bedeutet das, für die Umsetzung in Organisationen? Aus meiner Sicht bietet hier die Systemtheorie einige treffende Aussagen. So geht diese von Paradigmen aus, welche aus meiner Sicht treffend Elemente der Selbstorganisation beschreiben:
Mit der Autopoiesis wird das Prinzip der spontanen Selbstorganisation (nach Humberto Maturana) benannt. Gemeint ist, dass sich Systeme auf Einflüsse von aussen (Irritationen) immer wieder anpassen.
Weiter postuliert der systemische Ansatz die Selbstorganisation als eine Form der Systementwicklung, bei der formgebende oder gestaltende Einflüsse von den Elementen des Systems selbst ausgehen. In Prozessen der Selbstorganisation werden höhere strukturelle Ordnungen erreicht, ohne dass äussere steuernde Elemente vorliegen.
Die Äquilibration bezeichnet allgemein die Aufhebung des inneren Spannungszustandes eines Systems auf seine Umwelt durch diesen selbst (Selbstregulierung). Diese Regulation wird erreicht durch Koordination und/oder Adaptation (Anpassung) bzw. Assimilation und Akkommodation. Die Herstellung und Erhaltung eines Gleichgewichts ist, so die Annahme, eine Grundtendenz des Lebens und Motor von Entwicklung.
So wurde mir erzählt, dass in einer Organisation, welche biologische Badeartikel produziert, die Skepsis gegenüber den Plastikverpackungen immer grösser wurde. Kundinnen und Kunden beschwerten sich, in den Medien wurde darüber berichtet… Plastikverpackung ist out. Doch was tun? Als erstes kleinreden («wir haben nur einen geringen Anteil an Plastikverpackungen»), also das System aufrechterhalten. Die Beschwerden nehmen dann doch weiter zu, einzelne Mitarbeitende beklagen sich: das System gerät aus dem Gleichgewicht und muss sich nun neu orientieren.
Es ist wie bei einer Wippe, welche sich versucht im Gleichgewicht zu halten und durch Irritationen wieder ein neues Gleichgewicht suchen muss. Systemisch intervenieren heisst in der Selbstorganisation irritieren, also Abweichungen setzen, die das System anregt sich wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Dirk Baecker (2011) beschreibt das folgendermassen:
«Organisation ist die Herstellung und Aufrechterhaltung von Ordnung. Diese Ordnung ist aber ohne die dauernde Behebung von Störungen und – wichtiger noch – ohne ihre Vorwegnahme im Routineablauf der Organisation nicht zu denken. Wenn die Organisation einer Behörde, eines Krankenhauses, einer Schule oder eines Unternehmens nicht von aussen gestört wird, muss sie sich also selbst stören, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Führung und Management heisst somit nichts anderes als die geordnete Störung einer Organisation».
An dieser Stelle ist es vielleicht hilfreich noch kurz auf die Unterschiede zwischen Organisationsentwicklung (OE) und dem systemischen Ansatz einzugehen. OE wird häufig als systemischer Ansatz beschrieben (Glasl nennt seinen Ansatz systemisch-evolutionär). Der Ansatz von Glasl weist zwar Aspekte des Systemischen auf, in dem er die grundlegenden Aspekte und Prinzipien von Systemen zur Erklärung komplexer Phänomene aufgreift. Bei den methodischen Handlungsweisen unterscheiden sich die beiden Ansätze jedoch wesentlich.
So haben Kulmer und Trebesch bereits 2004 unter anderen folgende Unterschiede herausgearbeitet:
1) Während in der OE auf eine Gleichgewichtslogik gebaut wird, sucht der systemtheoretische Ansatz nach Veränderung durch Irritation. Gelingt es, dass System zu irritieren, so verändert es sich nach dem Prinzip der Selbstorganisation.
2) OE-Prozess sind konzeptgeleitet, in dem bspw. auf ein Phasenmodell des Wachsens verwiesen wird (Glasl). Beim systemischen Wandel wird bedarfsgeleitet interveniert. Der Ansatz ist situativ und flexibel.
3) Widerstand gegen Veränderungen versucht die OE durch Partizipation zu verhindern, in der Systemtheorie wird Widerstand aktiv genutzt.
4) In der OE wird ein geplanter Wandel verfolgt: als stetiger, beherrschbarer, geplanter Prozess, während man beim systemischen Wandel eher von geführtem Wandel als willensgetriebener Prozess mit einkalkulierten Überraschungen, Diskontinuität, Dilemmata und Ungewissheit spricht. Dem Wunsch nach geordnetem Wandel kann nicht entsprochen werden.
Nun komme ich nochmals zum Anfang zurück, dem Co-Geschäftsführer, welcher mich gebeten hat, ihm zu erklären, wie die Organisation Selbstorganisation einführen soll.
Heute würde ich ihr empfehlen – auf einem systemischen Paradigma basierend – folgende Punkte zu beachten (damals haben wir einfach losgelegt):
1) Stellen in der Organisation suchen, die Irritationen schaffen. Es ist nicht einfach ein System in Bewegung zu bringen, aber auch nicht einfach die Bewegung so zu gestalten, dass sie mittelfristig bewältigbar ist.
2) Alles auf einmal: sich überlegen, ob man gleich die Organisation als Ganzes oder nur Teile in die Veränderung schickt
3) Selbstorganisation läuft top-down: Die Führungskraft und der Vorstrand müssen überzeugt sein.
4) Neue Formen der Entscheidungsfindung einführen (bspw. Konsent, konsultative Einzelentscheide).
5) Kulturbildende Strukturen wie regelmässige Community-Treffen einführen.
6) Für Kooperation sorgen: ob die morgendlichen Sprints wie beim Scrum oder monatliche Globaltreffen wie in der hier erwähnen Organisation: Kooperation ist wichtig und bildet Ordnung!
7) Zuversicht ins Gelingen vermitteln
Welches Modell eignet sich somit am besten? Keines taugt für alle Fälle. Meine bisherigen Beobachtungen sprechen dafür sich sorgfältig die verschiedenen Modelle anzuschauen und in Bezug zur eigenen Organisation zu stellen. Wer hier sorgfältig plant statt ein «perfektes» Modell einzukaufen, hat viel gewonnen.
Quellenverzeichnis
Baecker, Dirk (2011). Organisation und Störung. Berlin: Suhrkamp.
Glasl, Friederich; Kalcher, Trude; Piber, Hannes (Herausgeber) (2014). Professionelle Prozessberatung: Das Trigon-Modell der sieben OE-Basisprozesse. Bern: Haupt
Kulmer, Ulla/Trebesch, Karsten (2004). Der kleine Unterschied und die grossen Folgen. Von der Organisa- tionsentwicklung zum Change Management. ZOE, Ausgabe 4
Laloux, Frederic (2015). Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Vahlen: München
Varela, Francisco J./Maturana, Humberto R./R. Uribe, R. (1974) Autopoiesis: The organization of living systems, its characterization and a model. In: Biosystems. 5, S. 187–196
Zängl, Peter (2019). Notizen zum Referat an der Tagung «Selbstorganisation – dezentrale Führung und Entscheidung» vom 20. Juni 2019
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Artikel ID
2019_1_35-39
Empfohlene Zitierweise
Kaegi, Urs (2019). Selbstorganisation: wovon sprechen wir? In: Selbstorganisation Journal. Sammelband 2019 (1). S. 35-39.
https://netzwerkselbstorganisation.net/journal/2019_1_35-39/