Abstract
Buurtzorg, ein Modell aus den Niederlanden, versteht Pflege ganzheitlich und setzt auf Teams, die sich selbst organisieren. Welche Erfahrungen machen ambulante Pflegeorganisationen in der Schweiz, die Elemente von Selbstorganisation eingeführt oder umgesetzt haben? Ein Forscherteam der Fachhochschule Nordwestschweiz hat nachgefragt.
Einleitung
Der ambulante Pflegedienst Buurtzorg ist selbstorganisiert und geht ganzheitlich vor. Dadurch erreicht er die höchste Klientenzufriedenheit von allen Gesundheitsorganisationen in den Niederlanden. 98% der Klientel würden Buurtzorg weiterempfehlen. In den letzten fünf Jahren haben die Mitarbeitenden Buurtzorg viermal als Arbeitgeber des Jahres gewählt. Die inzwischen rund 10000 Mitarbeitenden im Bereich Pflege arbeiten ohne Führungspersonen in selbstorganisierten Teams von sechs bis zwölf Personen.
Erfolgsmodell oder Rosinenpicker?
Administrativ werden die zirka 850 Teams von insgesamt lediglich 50 Mitarbeitenden im Backoffice, Bereich «zentrale Funktionen», unterstützt. Verschiedene Studien kommen zum Schluss, dass Buurtzorg im Vergleich mit anderen niederländischen Pflegeorganisationen bis zu 40 Prozent an Pflegekosten spart und bis zu einem Drittel weniger Einweisungen ins Krankenhaus aufweist. Buurtzorg ist nicht kritikfrei: Buurtzorg musste jüngst Steuern nachbezahlen und Konkurrenzorganisationen werfen Buurtzorg Rosinenpickerei betreffend Klientel vor. Trotzdem gilt Buurtzorg in Holland und international als Erfolgsmodell. (Buurtzorg 2019 und Stähler/Evers 2019: 29)
Transparenz und Coachingkonzept
Das wichtigste Element beim Buurtzorg-Ansatz ist eine differenzierte Vertrauensbasis. Diese Vertrauensbasis ist gekennzeichnet zum einen durch Transparenz, sowie andererseits durch die Unterstützung mithilfe eines nicht-direktiven Coachingkonzepts. Grösstmögliche Transparenz wird mit einem eigenen EDV-System erreicht, in dem wenige, aber relevante Daten erfasst und den Teams zurückgespiegelt werden. Alles ist für alle einsehbar. Zudem fördert das System die Kommunikation untereinander. Das Coachingkonzept ist ein weiterer Grundpfeiler des Buurtzorg-Modells. Coaches bieten den Teams Support an. Sie haben aber keine hierarchische Position und keine formelle Position betreffend Organisationspolitik und Entscheidungsfindung. Sie vermitteln den Teams die Philosophie, die Kultur und die Arbeitsweise von Buurtzorg. Sie bieten Support und Begleitung in der Teamentwicklung und steigern folgende Fähigkeiten der Teams: Unabhängig arbeiten, Problemlösung und Selbststeuerung. Bei Buurtzorg gibt es kein mittleres Management, aber die Coaches haben einen Blick von mittlerer Distanz auf ein Team. Ein Coach ist für etwa 40 Teams zuständig. Abgesehen von einem halbjährlichen Treffen, reagieren und beraten Coaches hauptsächlich auf Anfrage. Es besteht dementsprechend eine Holschuld seitens der Teams. (Cavedon et al. 2018:13–15).
Es tut sich auch in der Schweiz etwas
Ob ein Organisationsmodell nach Buurtzorg auf die schweizerischen Verhältnisse übertragbar ist, hat ein Forscherteam der Fachhochschule Nordwestschweiz untersucht (s. Box). Nach Abschluss der Machbarkeitsstudie hat das Team seine Forschungstätigkeit fortgesetzt und die Frage gestellt, wie es um weitere Organisationen der ambulanten Pflege steht, welche in der Schweiz Elemente von Selbstorganisation einführen oder umsetzen. Es tut sich was: Im Jahr 2019 haben die Forscher mehrere Dutzend Pflegeorganisationen (öffentliche und private, alle Sprachregionen) ausfindig gemacht, welche Selbstorganisation unterschiedlich stark umsetzen. Mit einem Dutzend davon führten wir telefonische Interviews. Die folgenden Hinweise sind ein Zusammenzug davon.
Ein kleiner Teil der Organisationen wurde neu gegründet. In den meisten Fällen führen bestehende Organisationen einen Veränderungsprozess in Richtung Selbstorganisation durch, welcher in der Regel von der Leitung initiiert wird. In einem Fall wurde von der Leitung ein basisdemokratisches Verfahren durchgeführt. Es bestand der Anspruch, dass auf allen Ebenen (Vereinsvorstand, Geschäftsleitung, Teamleitung, Fachpersonen Pflege und Hauswirtschaft) mindestens 70% der Organisationsveränderung zustimmen. In einer Abstimmung wurden die 70% durchgehend erreicht und die Organisation ist nun in Richtung Selbstorganisation unterwegs.
Kritik- und Konfliktfähigkeit
Bei den Organisationen, die bestehende Strukturen in Richtung Selbstorganisation verändern, wird in der Regel mit Pilot-Teams gestartet und gestaffelt vorgegangen. Betreffend Teamgrösse wird entweder die bei Buurtzorg geltende Obergrenze von 12 Personen eingehalten oder es ist geplant, dass grössere Teams, mit 15 oder mehr Mitgliedern, verkleinert werden. Sehr häufig wird auf die Kommunikationskompetenz als entscheidende Voraussetzung hingewiesen. Diese wird durch Weiterbildung gezielt gefördert. Selbstorganisation fordert einen äusserst professionellen Umgang miteinander. Es braucht eine ausgeprägte Kritik- und Konfliktfähigkeit, was heisst, dass Kommunikation als Arbeitsinstrument professionell eingesetzt werden muss.
Fachcoaching statt Teamcoaching
Im Gegensatz zum Coaching bei Buurtzorg, dass sich explizit nur auf das Teamcoaching fokussiert, wird bei den Befragten auch ein Fachcoaching eingesetzt. Wie bei Buurtzorg haben die Coaches in der Regel keine hierarchisch übergeordnete Funktion mit Weisungsbefugnis gegenüber den Teams. In den meisten Fällen nehmen Personen, welche ehemals eine Leitungsrolle, zum Beispiel in einem Team oder in der Geschäftsleitung hatten, die Coachingfunktion ein.
Für die Umschulung wird teilweise auf externe Ressourcen zurückgegriffen, denn es braucht hier ein Umdenken: Als ehemalige Leitungsperson muss man sich den Reflex abgewöhnen, bei Herausforderungen schnell eine Lösung anzubieten oder schnell etwas für das Team zu erledigen. Herausforderungen betreffend der Abgabe von Positionsmacht durch das Einnehmen der Coachingrolle wurden nicht angesprochen. Häufig wurde angegeben, dass das Zahlenverhältnis von Coaches und Teams (noch) nicht stimmt: Man hat zu viele Coaches für zu wenige Teams.
Ängste, Widerstand und Abwehr
Es bestehen weitere Herausforderungen auf den Ebenen Teammitglieder, Organisation und Klientel. Keine Teamleitung zu haben, wird von den Teammitgliedern teilweise als Verlust empfunden und löst Ängste aus. Bei Neuanstellungen nimmt das Gewicht der Sozialkompetenzen relativ zu den Fachkompetenzen (in Form von Diplomen) zu. Dasselbe gilt auch für den Arbeitsalltag. Personen mit einem tiefer eingestuften Ausbildungszertifikat haben gleich viel zu sagen wie höher diplomierte. Dies wird teilweise als Statusverlust wahrgenommen und führt zu Reibungen. Am Anfang der Umstellung eines Teams ist es jeweils ein Kulturkampf. Bis zum Punkt, an dem Erfolge deutlich sichtbar werden, herrscht teilweise viel Wiederstand und Abwehr.
Wenn bei der Umstellung Fehler passieren oder wenn es betreffend Leistungsqualität am Anfang noch nicht stimmt, wird dies von veränderungsskeptischen Personen jeweils als Killerkriterium gegen die Umstellung als Ganzes gesehen. Für grössere Organisationen ist es schwierig, alle Mitarbeitenden betreffend Umstrukturierung auf dem gleichen Informationsstand zu halten. Bei der gestaffelten Umstrukturierung der Organisation findet eine Vermischung der neuen und der alten Welt statt und dies kann irritierend sein – vor allem, wenn nicht für alle dieselben Regeln gelten.
Für einige wenige professionell Pflegende ist Selbstorganisation nicht geeignet. Personen mit ausgeprägt dominantem Verhalten sowie Personen, die höherem Verantwortungsdruck ausweichen, finden sich nicht zurecht. Die Veränderung in Richtung Selbstorganisation ist nicht nur für die Teammitglieder und die Organisation anspruchsvoll, sondern auch für die Klientinnen und Klienten. Diese müssen sich an die aktive Rolle gewöhnen. Sie sind immer weniger Konsumenten von Pflegedienstleistungen und immer mehr Mitproduzenten ihres eigenen Wohlbefindens.
Positive Effekte sind sicht- und messbar
Trotz der genannten Herausforderungen – es lohnt sich. In den Interviews wird von positiven Effekten auf der Ebene Klientel, auf der Ebene Teammitglieder und auf der Ebene Organisation berichtet. Die persönliche Beziehung zwischen Klientel und Teammitgliedern wird gestärkt; Beschwerden der Klientel werden unverzügliche entgegengenommen und im Team effektiv weiterbearbeitet; hochbetagte Klientinnen und Klienten brauchen weniger Medikamente und haben mehr Appetit. Auf Ebene der Teammitglieder wirkt sich das eigene Suchen nach Lösungen positiv auf die Arbeitsmotivation aus. Damit geht einher, dass die Teammitglieder kreativer und innovativer handeln und weniger krankheitsbedingt abwesend sind.
Mehr Selbstbewusstsein, weniger Administration
Entscheidend ist, dass die Teammitglieder ihre Jobs nicht mehr als isoliertes Nebeneinander sehen, sondern als ineinanderfliessendes Miteinander. Auch ist ein positiver Effekt beim Selbstbewusstsein zu beobachten. Die Hemmschwelle bei anderen Akteuren für die eigene Meinung einzustehen, nimmt ab: Man tritt den Spitälern, Krankenkassen oder Sozialbehörden eher auf Augenhöhe entgegen. Als positive Effekte auf Ebene Organisation werden mittelfristige Einsparungen bei den Administrationskosten von bis zu einem Drittel genannt.
Auch sind Umplanungen einfacher, weil Kompetenzen breiter verteilt und mehrfach vorhanden sind. Schliesslich werden vakante Stellen schneller neubesetzt, weil das Nennen von Selbstorganisation in Stelleninseraten eine hohe Anziehungskraft hat. Zum Abschluss das Fazit aus einem Telefoninterview: «Ich bin positiv überrascht, wie gut es läuft. Ich habe grössere Schwierigkeiten erwartet. Es ist eine lässige Geschichte.»
Auf der Homepage NetzwerkSelbstorganisation.net finden Sie unter folgendem Link ein Kurzinterview zu: «Selbstorganisation in der ambulanten Pflege. Erfahrungen mit dem Buurtzorg-Ansatz in Deutschland und der Schweiz». https://netzwerkselbstorganisation.net/videos/v1j
Literaturverzeichnis
Buurtzorg (2019) Buurtzorg.com (Eingesehen am 15. 11. 2019).
Cavedon, Enrico/ Minnig, Christoph/Zängl, Peter (2018). Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Das holländische Buurtzorg-Modell: Selbstorganisation in der ambulanten Pflege. In: CURAVIVA 6/18. S. 12 – 15.
Stähler, Patrick/ Evers, Jan (2019). Umsorgen, nicht pflegen. In: Brand eins 08/19. S. 28 – 29.
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2020_1
Empfohlene Zitierweise
Dieser Beitrag wurde uns freundlicherweise von Krankenpflege | Soins infirmiers | Cure infermieristiche zur Verfügung gestellt und sollte wie folgt zitiert werden:
Enrico Cavedon, Christoph Minnig, Peter Zängl (2020). Menschlichkeit vor Bürokratie. In: Krankenpflege | Soins infirmiers | Cure infermieristiche | 03/2020 | S. 12-15.