[Artikel] «Einwurf» – Selbstorganisation zwischen Mode und Innovation. Zur Kritik von Stephan Kühl an den Konzepten der Selbstorganisation.


«Wenn die Affen den Zoo regieren» Mit dieser Überschrift tourt der Organisationssoziologie Stephan Kühl seit Jahren durch die Vortrags- und Publikationslandschaft (Kühl 2015). Dabei kritisiert er intelligent und unterhaltsam Konzepte der Selbstorganisation.

Kühls theoretischer Heimathafen ist – als Bielefelder Soziologe nicht verwunderlich – die Systemtheorie Luhmannscher Prägung. Mit Vergnügen habe ich seine «kleine Einführung in die Organisationssoziologie» (Kühl 2011) gelesen. Ich verwende sie gerne in meinen Veranstaltungen, um Studierenden der Sozialen Arbeit die Welt der Organisationen (systemtheoretisch) näher zu bringen. Kernstück seiner Luhmann Adaption ist sein Organisationsverständnis bestehend aus den drei Elementen einer Organisation: Zweckbestimmung, Hierarchie und Mitgliedschaft. (ebd.) Entlang dieses Dreischritts argumentiert Kühl in seinen späteren Veröffentlichungen gegen das Funktionieren von selbstorganisierten Unternehmen.
Konzepte der Selbstorganisation ordnet Kühl den Moden und Mythen im Management zu (Kühl 2017). Im Kern beschreibt Kühl in seinen Veröffentlichungen vor allem vier Kritikpunkte, auf die ich im folgenden Beitrag eingehen möchte.

Kühls erster Kritikpunkt lässt sich mit den Worten «alles schon mal dagewesen» zusammenfassen. Selbstorganisation ist nach seinem Verständnis eine alte Managementmode mit neuer Begrifflichkeit (u.a. Kühl 2018). Er bezieht sich dabei auf die Arbeiten von Alfred Kieser, der in seinem Artikel «Moden und Mythen im Management» nicht nur sehr schlau beschreibt, was es braucht, einen Management Bestseller zu schreiben – alle seine Punkte treffen hervorragend auf Lalouxs Reinventing Organisation (Laloux 2014) zu –, sondern er weist Moden und Mythen im Management empirisch nach. (unbedingt lesen!). Kühl nimmt diesen Gedanken auf und beschreibt die wiederkehrenden Bemühungen und Diskussionen zu den Stichworten «Mitbestimmung», «Enthierarchisierung», «Beteiligung» etc. Agilität, Selbstorganisation, Soziokratie und vieles mehr ist lediglich der aktuelle bzw aufgewärmte Stand der Diskussion.

«Es war alles schon mal da»:
• Teilautonome Gruppen (20er Jahre)
• Human Relation Schule, Informalität (40/50er Jahre)
• Humanisierung der Arbeitswelt (70er Jahre)
• Lean Management (90er Jahre)
• New Economy (2000er Jahre)
• Agilität/ReInventing (aktuell)

Kühls Ausführungen zur mangelnden Originalität kann ich gut nachvollziehen, begegne diesen aber mit einem frechen „na und?“. Es geht nicht darum, wer was erfunden hat, sondern um die Suche nach passenden Modellen und Instrumenten als Mittel, um die Ziele einer Organisation zu erreichen. Ich würde die Kritik eher an den doch teilweise recht euphorischen Veröffentlichungen um Selbstorganisation ansetzen, bei denen man den Eindruck bekommt, sie sei das Ziel und nicht das Mittel. Selbstorganisation zum Selbstzweck kann nicht funktionieren. Die Kernfrage ist, warum soll Selbstorganisation eingeführt werden? Welches Ziel wird damit verfolgt? Dies entspricht im Übrigen sehr dem bereits genannten und von Kühl geteiltem Verständnis von Organisationen als „System mit einer Zweckbestimmung“.

Kühls zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf den Zusammenhang von Hierarchie und Macht (Kühl 2019). Weniger Hierarchie führe in erster Linie zu mehr Machtkämpfen in einer Organisation. Wenn jede und jeder in der Organisation mitsprechen kann, würden keine klaren Entscheidungen mehr getroffen und Auseinandersetzungen um Rang, Position und Funktionen in der Organisation würden ansteigen.

Kühls Argument der steigenden Machtkämpfe durch Enthierarchisierung ist komplex. Hier entgegne ich mit einem ebenso frechen „ja, aber…“. Schon bei den „Moden“, die Kühl (zurecht) angeführt hat, lässt sich erkennen, dass beispielsweise Habitus und Habitualisierung keine starren Muster in Lebensformen, Sozialverhalten und Umgangsformen von Mitgliedern einer Organisation beschreiben, sondern dass sich diese entwickeln und damit verändern (vgl. Bourdieu, Fromm). Denken wir an die unterschiedlichen Persönlichkeitstheorien, die die Beziehungen in einer Organisation (z.B. Leadership) erklären wollen – angefangen von der Great Man Theory über McGregors XY Theory und Anreiz-Beitrags-Theorien bis hin zu den unterschiedlichste Motivationstheorien. Deren Sinnhaftigkeit soll hier nicht diskutiert werden, doch sie zeigen, wie sich in den letzten 100 Jahren Anspruchshaltungen, Selbstverständnisse und (Sozial-)Verhalten in der Arbeits- und Organisationswelt verändert haben. Die entscheidende Variable mit Einfluss auf die „Zahl der Machtkämpfe“ ist nach meinem Dafürhalten weniger das Vorhandensein von mehr oder weniger Hierarchie, sondern die Sinnsuche in der eigenen Tätigkeit (vgl. Sensemaking nach Karl Weick 1995). Interessanterweise beschreibt eben dies Kühl selbst in seiner Funktion als Organisationsberater bei MetaPlan: „Unser Eindruck ist erstens, dass Organisationsmitglieder immer stärker auf der Suche nach Einwirkungsmöglichkeiten sind, bei denen sie nicht auf die Hierarchie zurückgreifen müssen“. (Kühl, Nahrholdt & Schnelle 2007).

Meine Gegenthese zu Kühl ist daher: Je mehr ich einen Sinn in meiner Tätigkeit sehe, um so mehr verlieren Positions- und Machtkämpfe ihre Relevanz, da der Sinn meines Tuns nicht mehr bloss auf das Anwachsen meines Einflusses basiert.

Kühls dritte Kritik bezieht sich auf die – seiner Meinung nach – in den Konzepten der Selbstorganisation propagierten Entformalisierung – sei es in Bezug auf Regelwerke, oder auch bei der Auflösung von Organisationsstrukturen respektive Abteilungsgrenzen (Kühl 2017, 2018). Er begründet nicht nur systemtheoretisch korrekt, dass weniger Formalstrukturen zu mehr Komplexität führen. Der Ruf nach weniger Bürokratie ist also mindestens zweischneidig, bieten doch Formalstrukturen Handlungssicherheit, Verlässlichkeit und dienen letztlich auch der Vereinfachung. An dieser Thesis zeigt sich das Grunddilemma der Kühlschen Argumentation: Kühl nutzt den Begriff der Selbstorganisation als Containerbegriff für die unterschiedlichsten Modelle wie beispielsweise Soziokratie, Holacracy, Agilität, New Economy. Dadurch vermischt er zum Teil Modelle (z.B. Soziokratie) mit Methoden (z.B. Scrum), was eine Zuordnung seiner Kritik zu einem speziellen Modell unmöglich macht. Ohne Zweifel ist die Vereinfachung ein zentrales Prinzip der meisten Modelle der Selbstorganisation. Dies heisst aber nicht, dass sie strukturlos oder gar formfrei wären. Ich bin wahrlich kein Verfechter des holakratischen Modells, aber dieses Modell zeichnet sich gerade aus durch eine hohe Formalstruktur (Betriebssystem, Festes Verfahren bei operativen und strategischen Meetings etc.). Ich halte dieses Modell für bestimmte Branchen sogar für überstrukturiert. Demgegenüber weist die Urform der Soziokratie vier Prinzipien aus, die für alle Beteiligten transparent sind und die ein hohes Maß an Verlässlichkeit garantieren. Die Vereinfachungen zum Beispiel in soziokratischen Modellen beziehen sich insbesondere auf die operative Ebene. Vorhandene Rationalitätsmythen – also Instrumente und Verfahren, die zwar Rationalität suggerieren, aber dem eigentlichen Unternehmensziel nicht dienen – sollen abgebaut werden. Genau in diese Richtung geht auch der Ansatz von Gary Hamel unter dem etwas reisserischen Titel „Humanocracy“, der auf die Vermeidung bzw den Abbau von Bürokratie abzielt (Quelle).

Schliesslich und viertens kritisiert Kühl den vielen Konzepten der Selbstorganisation zugeschriebene evolutionäre Charakter (Kühl 2017, 2018, 2019). Zum einen speist sich seine Argumentation aus der Rezeption vorhandener Konzepte der letzten 100 Jahre (s.o.). Andererseits analysiert er, dass es keine optimale Organisationsform gibt. Alle Modelle sind mit Kosten verbunden. Bei der Wahl des aktuell richtigen Modells steht die Reduktion dieser Kosten im Vordergrund. Entschied man sich in der Organisation für eine eher zentrale Struktur, führt dies früher oder später zu einer Gegenbewegung in Richtung Dezentralisierung – ebenso verhält es sich beim wechselseitigen In- und Outsourcing von Produktionsteilen und schliesslich – so Kühl – treffe dies auch auf einmal mehr und dann wieder weniger Hierarchie zu. In Abgrenzung zu den evolutionären Metaphern von Laloux und anderen beschreibt Kühl dies als Pendelbewegung. Da der Rückschwung des Pendels, also die Rückkehr zu vormaligen Konzepten und Modellen, als Niederlage oder gar Missmanagement empfunden werden könnte, werden für die „alten“ Modelle einfach neue Wörter erfunden. Wäre dies tatsächlich so wie Kühl es beschreibt, dann wären Innovationen im Management nicht vorhanden und Organisationen würden mit ihren Modellen und Instrumenten immer nur zwischen den Extremposition des Pendels hin und her schwingen. Ich teile Kühls Kritik in so weit, dass ich nicht an eine zwangsläufig evolutionäre Entwicklung im Management glaube, die ein besser oder schlechter von Modellen beinhaltet oder gar darwinistischer Natur ist. Ich gehe davon aus, dass Organisationen – Luhmann folgend – aus Entscheidungen bestehen. Entscheidungen und sogenannte Entscheidungsprämissen sind lose miteinander gekoppelt. Dies ermöglicht Variationen (Veränderungen von Entscheidungen), Selektion (Ausbildung von Entscheidungen zu Strukturen/Entscheidungsprämissen) und Rentention (Restabilisierung der Ergebnisse der Selektion, die dann korrigiert werden). Dies ist letztlich für die (Weiter-)Entwicklung von Organisationen verantwortlich (vgl. Luhmann 2000) und lässt Innovation zu.

Kühl schließt seine Vorträge häufig mit dem Bonmot und fast versöhnlich, dass er Managementmoden – als solche bezeichnet er Konzepte der Selbstorganisation – nicht negativ beurteile. Er empfiehlt Beraterinnen und Berater von Organisationen genau zu schauen, wo solche Moden genutzt werden können, um bestimmte Effekte zu erzielen und Impulse in einer Organisation zu geben. Man dürfe nur nicht daran glauben (z.B. Kühl 2017).

Mir ist diese Position zu nahe an einem höchst pragmatischen „muddling through“. Dennoch: Kühls Argumentation ist schlau, immer lesens- und sehenswert. Er polarisiert und provoziert im positiven Sinne. Seine Kritik trägt dazu bei, sich mit den Konzepten der Selbstorganisation vertieft auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt wegen ihrer Innovationskraft in Organisationen. Dies schärft die eigene Position. Wichtig ist aber generell, dass die Konzepte nicht Selbstzweck sind. Sie folgen dem Organisationsziel und nicht umgekehrt.

Vielleicht ist es aber auch so, wie schon Niklas Luhmann schrieb:

“Was funktioniert, das funktioniert. Was sich bewährt, hat sich bewährt.
Darüber braucht man kein Einverständnis mehr zu erzielen.“

(Luhmann 1997: 518)

Was meinst du dazu? Lass es uns in den Kommentaren wissen!

Literatur

Hamel, Gary (2020): Humanocracy: Creating Organizations as amazing as the People inside them. Wa-tertown: Harvard Business Review Press

Kühl, Stefan; Nahrholdt, Christoph & Schnelle , Thomas (2007): Zur Popularität des Konzeptes des Lateralen Führens. Laterales Führen, Arbeitspapier Nr.1, Quickborn.
https://resources.metaplan.de/wp-content/uploads/2017/04/2007_Laterales_Fuehren1_Kühl_Nahrholdt_Schnelle_zur_Popularitaet_des_Konzeptes.pdf Letzter Zugriff: 8.11.2020

Kühl, Stefan (2011): Organisationen. Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissen-schaften.

Kühl, Stefan (2015): Wenn die Affen den Zoo regieren: Die Tücken der flachen Hierarchien. Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag

Kühl, Stefan 2017. Organisationen als Mülleimer.
https://www.youtube.com/watch?v=ZeaeDEd-Vi0 Letzter Zugriff: 8.11.2020

Kühl, Stefan (2018): Agilität, Holacracy und andere Managementmethoden…
https://www.youtube.com/watch?v=LPlztwNSxyg. Letzter Zugriff: 8.11.2020

Kühl, Stefan (2019): Die Tücken der agilen Organisation.
https://www.youtube.com/watch?v=p3LDABxF96c Letzter Zugriff: 8.11.2020

Laloux, Frederic (2014): Reinventing Organizations. A guide to creating Organizations inspired by the next stage of human consciousness. Nelson Parker. Brussels

Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Weick, Karl (1995): Sensemaking in Organizations; Sage Publication Inc.

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Prof. Dr. Peter Zängl (Alle Beiträge sehen)

Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW

Schwerpunkte: Arbeits- und Organisationssoziologie, Sozialmanagement, Social-Impact-Modell, Zivilgesellschaft, Entscheidungen in Organisationen.

https://www.fhnw.ch/de/die-fhnw/hochschulen/soziale-arbeit/institute/institut-beratung-coaching-und-sozialmanagement

peter.zaengl@netzwerkselbstorganisation.net

3 Gedanken zu “[Artikel] «Einwurf» – Selbstorganisation zwischen Mode und Innovation. Zur Kritik von Stephan Kühl an den Konzepten der Selbstorganisation.”

  1. Lieber Peter
    Vielen Dank für diesen anregenden und informativen Beitrag. In Bezug auf den zweiten Kritikpunkt zur Dreifaltigkeit von Hierarchie, Sinn und Macht habe ich mir einige Gedanken gemacht.
    Die Gegenthese würde ich zwar so unterschreiben, sehe aber auch einen anderen Aspekt: Was ist wenn der Sinn oder der gewählte Weg dazu nicht dem entspricht, was ich mir persönlich wünsche? Will ich dann nicht meinen Weg/meinen Sinn mit Macht durchsetzen? Macht es dann noch einen Unterschied ob Macht als Hierarchie oder als Kampf für einen Weg oder einen Sinn der mir entspricht daherkommt? Oder ist es dasselbe?
    Bis bald,
    Matthias

    1. Hallo Matthias,
      spannende Frage, die du da stellst. Ich denke, dass es tatsächlich ein Unterschied darstellt, ob Mach als Hierarchie oder als Kampf für einen Weg daherkommt. Und zwar die Ohnmacht macht es aus. Wenn jemand eigentlich nur aus hierarchischen Gründen Macht hat, kommt im Falle des Andersdenken mehr Ohnmacht auf, man ist wie das Wort so schön ausdrückt, ohne Macht. Wenn jemand Macht ausüben will, weil er von etwas überzeugt ist od. einen eigenen Sinn vertreten möchte, hat man Möglichkeiten in den Diskurs zu gehen. Man muss überzeugend sein und kann nicht alleine seine hierarchisch bedingten Machtinstrumente nutzen. So sehe ich es zumindest. Doch wie so schön in der These erwähnt: „Je mehr ich einen Sinn in meiner Tätigkeit sehe, um so mehr verlieren Positions- und Machtkämpfe ihre Relevanz, da der Sinn meines Tuns nicht mehr bloss auf das Anwachsen meines Einflusses basiert.“ Und Sinnhalftigkeit ist bei der Vielfallt, die einem Selbstführung bietet, eigentlich meist gegeben.

  2. Hallo Peter
    Erst ein wenig verzögert habe ich deinen Artikel gelesen und fand die Lektüre sehr bereichernd, herzlichen Dank. Ich finde die Position von Kühl bemerkenswert, dass man den Managementmoden – und damit nach seiner Definition auch dem Thema Selbstorganisation – nicht glauben dürfe. Denn mein Eindruck nach 5 Jahren Tätigkeit im Feld von Selbstorganisation ist der, dass es schlussendlich eine Glaubensfrage ist. Entweder glaubt man, dass traditionelle Management-Ansätze zum Ziel führen oder man glaubt, es brauche andere Ansätze (z.B. Methoden oder Modelle der Selbstorganisation). Für mich ist hier vor allem auch der Umkehrschluss logisch: Wenn man nicht daran glaubt, dann funktioniert beides nicht.

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