[Artikel] New cooperation – Arbeiten auf Augenhöhe

Professionelle Soziale Arbeit hat unter anderem zum Ziel, ihren Klient*innen zu grösstmöglicher Autonomie, Verantwortung für das eigene Handeln und gesellschaftlicher Teilhabe zu verhelfen. Soziale Organisationen selbst sind jedoch oft hierarchisch organisiert, was zu diesen Zielen im Widerspruch steht. Soziale Organisationen nach Prinzipien der Selbstorganisation umzugestalten, ist deshalb ein wichtiges Anliegen, um Stimmigkeit im Handeln in der Organisation und mit der Klientel zu gewährleisten.

Mittags gehe ich gerne in ein Restaurant essen, in welchem Menschen mit einer Beeinträchtigung arbeiten. Sehr leckeres Essen! Ich bewundere immer wieder, mit welcher Sorgfalt die Speisen zusammengestellt werden, wie kreativ eine Küche ohne Fleisch auskommt. Auch der Umgang der Mitarbeitenden miteinander beeindruckt mich. Aber: seit einigen Monaten fehlen regelmässig Mitarbeitende, ich höre von Stress, ökonomischem Druck, Burnout. Als ich eine Mitarbeiterin darauf anspreche meint sie, sie wisse nicht, was abgeht, man werde nicht mehr informiert. Aber es laufe einiges schief, das merke sie. Sie vermutet, dass man sie wegen ihrer psychischen Probleme nicht informiert, weil man meine, man dürfe sie nicht belasten. Das erlebt sie alles als unangenehm und bevormundend.

Gleiches Restaurant, ein paar Tage später: ich treffe einen Mitarbeitenden einer anderen Organisation, welche sich als «evolutionär» nach Laloux1 bezeichnet, als eine Organisation, welche sich als lebendiger Organismus stetig weiterentwickelt und sich neuen Bedingungen anpasst. Er berichtet über eine Befragung der Bewohnenden, die er durchgeführt hat. Vor einigen Jahren wurde dort Selbstorganisation eingeführt mit dem Ziel, Bewohnenden «auf Augenhöhe» zu begegnen. Seine Augen strahlen. Die Bewohnenden beteiligten sich aktiv am Hauskreis und hätten mittlerweile eine eigene Hausversammlung organisiert. Die «Ämtli» würden nicht mehr durch die Mitarbeitenden vergeben, sondern selbst organisiert. Und wenn mal jemand nicht mag, springe eine andere ein.

Zwei Organisationen mit einer vergleichbaren Klientel, jedoch ganze andere Haltungen, Erlebnisweisen und Selbstkonzepte. Wie kann das sein? Ich führe dies auf eine neue Form der organisationalen Kooperation zurück, welche sich direkt auf die Arbeit mit der Klientel auswirkt: Selbstorganisation (SO) im Wohnheim statt hierarchischer Organisation wie im Restaurant.

Hierarchie vs. Autonomie

Ich sehe in der SO die Antwort auf eine Frage, die mich schon länger beschäftigt: wie kann ein*e Professionelle*r der Sozialen Arbeit ihre bzw. seine fachlichen Ziele in einer hierarchischen Organisation erreichen? Schliesslich steht Hierarchie klar im Widerspruch zu Prinzipien wie «grösstmöglicher Autonomie», Teilhabe, «selbstbestimmt Verantwortung für das eigene Handeln und für andere Menschen» sowie Mitgestaltung, wie sie im Berufskodex formuliert sind. Und: Kann man sein eigenes, von Hierarchie geprägtes organisationales Verhalten von der Beziehungsgestaltung mit Klient*innen trennen, die deren Autonomie fördern sollte? Klar, die organisationale Gestaltung führt nicht zwangsläufig zur Umsetzung der Ziele der Sozialen Arbeit, aber ich gehe davon aus, dass sie vieles dazu beiträgt. Um Prinzipien wie Autonomie, Teilhabe und Selbstverantwortung zu verwirklichen, muss also die Organisation entsprechend gestaltet sein. «Selbstorganisation» ist der Schlüsselbegriff dafür.

Selbstorganisation als entscheidender Faktor

Was bedeutet Selbstorganisation in einer Organisation? Der Begriff stammt ursprünglich aus der Systemtheorie2 und meint, dass sich Systeme, in unserem Fall Organisationen, aufgrund von formgebenden oder gestaltenden Einflüssen aus sich selbst herausbilden, also nicht vorausgegeben werden. Ordnungsmuster der Kooperation entstehen aus der Dynamik des Systems, ohne dass jemand aktiv etwas dazu beträgt. Man spricht von emergenten Phänomenen. Der direkte Bezug von SO zur Systemtheorie ist jedoch eher irreführend, denn statt auf sich selbst bildende Strukturen zu warten, werden gezielt organisationale Elemente eingefügt, die SO fördern. Es gibt dazu einige Modelle wie Kanban, Soziokratie, Scrum, kollegiale Führung, evolutionäre Organisation oder Holokratie3. «Selbstorganisation» ist zu einem Containerbegriff geworden und wird für verschiedene Formen der organisationalen Gestaltung verwendet, welche Partizipation, Autonomie, Verantwortung, Selbststeuerung und den Umgang mit Unsicherheit, Paradoxien und Komplexität ermöglichen. Ich verwende den Begriff der SO trotz dieser Unschärfe, da er sich für mich gut als Oberbegriff der verschiedenen Ansätze taugt.

Alle Konzepte der SO verfügen über ähnliche Grundelemente:

Neue Entscheidungsformen: Entscheidungen werden dort getroffen, wo sie anfallen. Um dies zu ermöglichen, geben die verschiedenen Ansätze der SO entsprechende Instrumente, u.a. den Konsent und den konsultativen Einzelentscheid.

Letzterer erlaubt der Person, welche vor einer bedeutenden Entscheidung steht, unkompliziert und schnell selbst zu entscheiden. Einzige Bedingung ist, dass alle durch den Entscheid Betroffenen um ihre Meinung gefragt werden. Auf Basis dieses Wissen darf dann entschieden werden, im Extremfall sogar gegen die Empfehlungen aller andern.

Der Konsent hingegen wird gemeinsam in einer Gruppe getroffen. Jemand bringt einen Lösungsvorschlag und jede/r kann Fragen dazu stellen. Anschliessend wird Zustimmung abgefragt. Hat jemand einen schwerwiegenden Einwand, was heisst, dass der beabsichtigte Entscheid eine Gefährdung für die Strategie oder die Organisation bedeutet, wird der Vorschlag reformuliert und verbessert. Dabei gilt für Entscheidungen stets das Prinzip «good enough for now, safe enough to try». Bei dieser äusserst effizienten Entscheidungsfindung geht es nicht um die perfekte oder beste, sondern um eine machbare Lösung, welche es den Beteiligten ermöglicht weiterzuarbeiten und die im Toleranzbereich aller Mitglieder im Hinblick auf das gemeinsame Ziel liegt4.

Führen in Kreisen: Die Soziokratie hat, in Ergänzung oder sogar an Stelle des hierarchischen Organisationsmodells, sogenannte Kreise geschaffen. In diesen werden verbindliche Entscheidungen getroffen. Sie setzen sich aus Personen der unterschiedlichen Hierarchiestufen zusammen, welche einen Bezug zum Thema aufweisen. Beispiele in der Sozialen Arbeit sind etwa Arbeitsgruppen zu Abklärungen in KESB-Verfahren, zu Arbeitsintegration oder zur Elternarbeit in einem Kinderwohnheim. Unter einer durch den Kreis offen gewählten Moderation werden die Themen diskutiert und entschieden. Dabei hat jede*r Beteiligte gleich viele Rechte. Der Kreis teilt die anstehenden Aufgaben und Zuständigkeiten selbst auf. Dadurch entsteht eine Fachhierarchie statt einer Machthierarchie. Idealerweise wechseln die Zuständigkeiten in einem festzulegenden Turnus. In Kreisen wird eine neue Form der Kooperation eingeübt, indem unterschiedliche Argumente eingebracht werden, aber Entscheidungen nicht durch eine langwierige Konsenssuche gebremst werden. Ich kenne einzelne Organisationen, die in den Kreisen sogar Plätze für Betreute reserviert haben.

Sinn der Arbeit: In der Sozialen Arbeit eigentlich müssig zu erwähnen, trotzdem stellt sich die Frage nach dem individuellen und geteilten Sinn (Purpose) der Arbeit. Erkenne ich in meiner Arbeit einen übergeordneten Sinn meines Handelns und gelingt es uns, diesen als Organisation zu teilen, so fallen Entscheidungen leichter, denn sie richten sich nach dem gemeinsamen Sinn. Der Purpose wird so zur dominanten Entscheidungsgrundlage. Durch den in SO gegebenen regelmässigen Austausch wird laufend am Sinn gearbeitet und Veränderungen der Umwelt fliessen ein. Die Organisation entwickelt sich so evolutionär.

Transparenz: Um Entscheide ganzheitlich fällen zu können, braucht es Wissen. Dieses wird in Betrieben mit SO grösstmöglich offen zur Verfügung gestellt. Einzig ein allfälliger Schutz der Persönlichkeitsrechte verhindert die vollständige Transparenz. Um Informationen allen zur Verfügung zu stellen, sind entsprechende, meist elektronische Medien bereit zu stellen.

Fliessender Übergang zu Selbstorganisation möglich

Diese Elemente der SO lassen sich schrittweise und parallel zu bestehenden Strukturen umsetzen. So kann weiterhin eine Teamleitung bestehen, es können aber Aufgaben abgegeben werden, welche selbstverantwortlich erfüllt werden, etwa die Finanzverantwortung oder die Sitzungsmoderation. Oder die Teamleiterin übernimmt neu die Rolle des Changeagent und unterstützt das Team bei der Einführung der Selbstorganisation. Führung besteht somit weiterhin, sie wird aber stärker an thematischen Zuständigkeiten ausgerichtet.

Wie aus der Organisationsentwicklung bekannt, ist es bedeutsam, die Mitarbeitenden bereits bei der Entscheidung zur Transformation in Richtung SO partizipativ zu beteiligen. Im Prozess selbst zählen eine transparente Kommunikation sowie Partizipation bei der Planung und Umsetzung. Unbedingt müssen Mitarbeitende während der Umsetzung geschult werden, bspw. durch das Einüben einer Konsent-Moderation.

Generell gilt: Selbstorganisation ist ein massiver Eingriff in die DNA einer Organisation. Ich habe Organisationen kennengelernt, die das Grundgerüst innerhalb von 12 Monaten eingeführt haben. Andere sind schon Jahre daran dies schrittweise zu tun. Mir scheint letzteres angemessener, aber das muss jede Organisation selbst entscheiden. Klar ist, dass der Start immer top-down erfolgt, d.h. das oberste Management, der Vereinsvorstand oder der Stiftungsrat entscheiden, häufig auf Antrag der Geschäftsleitung, die organisationalen Strukturen umzugestalten. Noch nie habe ich gesehen, dass ein solcher Prozess von unten nach oben angestossen wurde. Ob der Prozess abrupt eingeführt wird oder man schrittweise vorgeht: ich würde immer von einem Veränderungshorizont von fünf Jahren ausgehen. Der damit verbundene kulturelle Wandel braucht Zeit!

SO ist eine Veränderung auf mehreren Ebenen. Organisational zeigt sie sich durch die Auflösung von hierarchischen Organisationsstrukturen, mehr Lohntransparenz, gerechtere Lohnsysteme und bessere Arbeitsbedingungen. Auf der Ebene der Mitarbeitenden erleben diese eine steigende Arbeitszufriedenheit, Sinnhaftigkeit und persönliche Potenzialentfaltung, wie eine aktuelle Studie5 zeigt. Weiter berichten sie von weniger Stress, einer höheren allgemeinen Lebenszufriedenheit und persönlicher Emanzipation. Noch wenig untersucht wurde die Ebene der Kundinnen und Kunden, in unserem Fall der Klient*innen der Sozialen Arbeit. Es zeigen sich aber, wie im Beispiel zu Anfang erwähnt, durchweg positive Entwicklungen.

Ein positiver Nebeneffekt der Selbstorganisation ist die gesteigerte Anpassungsfähigkeit der Organisation an Veränderungen. Häufig wird deshalb auch bei Selbstorganisation von «agilen Organisationen» gesprochen: kürzere Entscheidungswege, Mitsprache, breit zugängliche Information führen zu schnellerer Anpassungsleistung. Aber: Organisationen können agil sein, auch ohne Selbstorganisation, SO ist nicht identisch mit Agilität!

Mein Fazit: Wem der Berufskodex von Sozialer Arbeit6 wichtig ist, der kommt nicht um SO in seiner Organisation rum. Arbeiten auf Augenhöhe heisst auch sich organisieren auf Augenhöhe.

 

Erstveröffentlichung auf sozialinfo.ch im August 2022.

 

 

  1. Laloux, Frederic (2015). Reinventing Organizations – Ein Leitfaden sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen
  2. Siehe Luhmann, Niklas (2020). Einführung in die Systemtheorie. Hrsg. v. Baecker Dirk. 8. Aufl. Heidelberg: Carl Auer
  3. Ein interessanter Vergleich zu den verschiedenen Modellen findet sich bei Gawron, M., Gander, Th., Zängl, P. (2022). Selbstorganisation als Treiberin gesellschaftlichen Wandels? Kapitel 3 https://anny-klawa-morf.ch/selbstorganisation-als-treiberin-gesellschaftlichen-wandels/
  4. Mehr zum Konsent bei Christian Rüther: https://www.soziokratie.org/konsent-moderation/
  5. Gawron, M, Gander, Th., Zängl, P. (2022). Selbstorganisation als Treiberin gesellschaftlichen Wandels? Publikation der Anny-Klawa-Morf Stiftung, Bern. Zu beziehen bei info@anny-klawa-morf.ch
  6. Siehe https://avenirsocial.ch/union_brochures/kostenpflichtig-berufskodex-soziale-arbeit-schweiz/
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Urs Kaegi (Alle Beiträge sehen)

em. Professor der Fachhochschule Nordwestschweiz, selbständiger Coach und Organisationsberater

Schwerpunkte: Kooperation in Organisationen, organisationaler Wandel

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