[Artikel] Horizontale Organisationsstrukturen versus vertikale Führung

Abstract

Verlagert sich die Organisationsstruktur in einem Unternehmen hin zu horizontalen Ausrichtungen der Kunden- oder Prozessorientierung, bedingt diese Verlagerung eine gleichzeitige Mitentwicklung der Führungsstruktur. Diese Bedingtheit, wird häufig unterschätzt, was meist zu Reibungen und Dilemmata im Unternehmen oder in Unternehmensbereichen führt. Aber was bedeutet das: Der Wandel der Organisationsstruktur fordert einen Wandel der Führungsstruktur?


Die wertschöpfenden Unternehmensbereiche haben eine Grenze zum Außen des Unternehmens, direkt zum Markt und zu den Kunden. Dort an der Peripherie sind Veränderungs- und Beschleunigungsimpulse, die von außen in die Arbeitswelt hineingesendet wer-den, besonders spürbar. Industrie 4.0 fordert Tribut. Der Markt, die Mitbewerber, Qualitätsansprüche und Kundenbedürfnisse differenzieren sich zunehmend aus, das Kundenverhalten verändert sich, die Digitalisierungstechnologie hält mit rasanter Geschwindigkeit Einzug in die Unternehmen. Dienstleistungen und Service werden bis 2020 einen höheren Umsatzanteil ausmachen, wir werden „Operational Excellence durch digital veredelte Wertschöpfungsprozesse“ erfahren (Sames, 2016). Viele Unternehmensbereiche an der Peripherie sind schon längst von der VUKA Welt 1 in Empfang genommen worden und agieren bereits mit der erforderlichen Agilität. Es entsteht nun eine besondere Dynamik, wenn die vertikale Führung einer hierarchisch – funktional gegliederten Organisation auf eine horizontale, nämlich verstärkt kunden- oder prozessorientierte Ausrichtung der Organisationsstruktur trifft.

In Unternehmen oder Unternehmensbereichen fordert diese Dynamik, zunehmend selbst-ständiges und eigenverantwortliches Entscheiden und Arbeiten der Mitarbeitenden. “Empowerment“ ist eins der Zauberwörter. Täglich zu treffende Entscheidungen verlagern sich in Unternehmen zunehmend von oben nach unten.

Ich bediene mich eines Bildes der klassischen Hierarchie. Das Konzept/Modell des obersten Chefs als König, der seinen Bereich regiert mit Hilfe seiner Fürsten, den Bereichs- oder Abteilungsleitern, die ihrerseits ihre Fürstentümer mit Ministerialen regieren, hat schon längst ausgedient. Die Aufgabe der formellen Führungsstruktur in modernen Unternehmen „ist die Sicherung von Gesetzmäßigkeit oder „Compliance“ für die Organisation: die Ausfüllung des gesetzlich vorgesehenen Gestaltungsraums. Verträge gehören dazu. Buchhaltung und Rechnungslegung. Formelle Funktionszuordnung wie Geschäftsführung, Prokura, Betriebsrat, Aufsichtsrat oder Datenschutzbeauftragter. Dies ist die existenzielle Aufgabe formeller Struktur im Rahmen von Rechtsstaatlichkeit. … Das war’s“ (Pfläging, 2016).

So radikal ist der Kulturwandel vielleicht nicht. Jedoch scheint das vertikal ausgerichtete hierarchische Führungsmodell nicht länger in der Lage zu sein, der zunehmenden Komplexität und den damit verbundenen potentiellen Reibungsflächen in Organisationen erfolgsversprechend begegnen zu können. Die Anforderungen der VUKA Welt strahlen aus dem Außen in die Unternehmen hinein, spiegeln sich dort und erzeugen noch mehr Komplexität durch unterschiedlich beschleunigte Dynamiken.
Die Chefin, die Bereichsleiter, die Abteilungsleiterin sind die bisher unmittelbar ansprechbaren Personen, die die Mitarbeitenden als auch die Führungskräfte auf der mittleren Führungsebene, in der hierarchischen Struktur erleben und gewohnt sind. Diese Struktur erfordert zwei zentrale Ausrichtungen. Einerseits die von oben nach unten in den eigenen Verantwortungsbereich hinein, andererseits die von unten nach oben zu den nächst höheren Führungskräften.

In der Wahrnehmung der Mitarbeitenden ist oben die „Weisheit“ (welche durchaus auch mal von unten in Frage gestellt wird und gestellt werden muss), ist oben die Entscheidungsbefugnis, ist oben die Verantwortung, und im Zweifelsfall ist oben auch die Schuld zu suchen, wenn ein Vorhaben, ein Prozess misslingt. Also ab nach oben mit der Verantwortung, den Problemen, den Entscheidungsfragen und hinunter mit den Problemlösungen und den Umsetzungen der getroffenen Entscheidungen. Diese Verhaltensdynamik in der Hierarchie hat für Mitarbeitende durchaus etwas Entlastendes.
Gleichzeitig entstehen durch die zunehmend horizontalen Ausrichtungen an die sich immer weiter ausdifferenzierenden Bedarfe des Marktes, der Kunden als auch der sich beschleunigenden Prozesse Bedingungen, die eine interessante und herausfordernde Dynamik inszenieren.

Please the customer, don’t please the boss!

Nun wird die Sache verwirrend, wenn Führung ihre Insignien der Macht ablegt und verkündet:
„Wir sind nicht länger die allumfassende Entscheidungsinstanz. Setzt – auf allen Ebenen der Organisation – all euer Wissen, eure Erfahrungen, eure Kompetenzen, euer Können ein. Übernehmt Verantwortung und werdet selbstständig.“ Spannend daran ist: Markt-, Kunden- und Prozessorientierung bleiben meist ein schwach wirksamer Appell gegenüber der Verhaltensdynamik, welche durch die hierarchische Struktur aktiviert und routinisiert wurde. Die Realisierung des Appells, “werdet selbstständig“ kann nur Schritt für Schritt und mit Hilfe vieler Klärungsgespräche vollzogen werden. Der Widerstand der eingefahrenen Verhaltensmuster darf nicht unterschätzt werden.

„Die Forderung nach Flexibilität, Agilität, Dezentralität und Mobilität kollidiert auf allen Führungsebenen mit der Angst vor Kontrollverlust, Karrierewünsche individueller Ich-AG´s prallen mit Kooperationserfordernissen und Teamperformance-Bewertungen zusammen, bei stagnierenden oder enger werdenden Handlungsspielräumen haben Einzelne immer mehr Verantwortung zu schultern, und in diesem Druckkochtopf folgen Platzhirsche wie Vertrieb und Produktion einander widersprechenden Prioritäten, Aufgabenverständnissen, Qualitätsauffassungen und Selbstbildern im Ringen um strategische und taktische Vormachtstellungen.“ (Die Redmont Paradoxie-Studie: „ALLES IST Paradox – Also wird alles gut.“ 2017).

Gleichzeitig schauen die Mitarbeitenden wie auch die Führung auf der mittleren Ebene erst einmal sehr genau hin, wie weit die Chefin und der Chef ihre Aufforderungen „übernehmt Verantwortung und entscheidet selbstständig“ ernst nehmen und nicht selbst in gewohnte Verhaltensmuster zurückfallen. Können sie dem mehr oder weniger offen ausgedrückten Wunsch der Mitarbeitenden nach Führung von Oben alten Musters standhalten?

Wenn Führungskräfte aller Ebenen Führungsverhalten nicht entsprechend nachhaltig an die Anforderungen der Markt-, Kunden- und Prozessorientierung der Organisation anpassen, werden die Dilemmata langwierig und folgenreich sein.

Führungsrollen haben sich generell schon längst gewandelt, von der Rolle des besten fachlichen Experten und inhaltlichen Problemlösers zur Rolle des Gestalters von passenden, nützenden Bedingungen. In dieser Rolle ist es DIE Führungsaufgabe schlechthin, Rahmen zu schaffen und zu halten für eigenständige, eigenverantwortliche Arbeit, Problemlösungen und Entscheidungsfindungen der Mitarbeitenden. Führungskräfte sollten sich verstehen als Gestaltende von nützenden Bedingungen. Führungskräfte als servant leaders, „die die Mitarbeiter unterstützen. Mittlere Manager werden als Berater für ihre Teams ausgebildet, um aus dem Hintergrund zu führen und zu inspirieren, statt von oben Befehle zu geben“ (Laloux, 2017).

Kulturwandel in der Führung erfordert besondere Kompetenzen und Achtsamkeit. Und nicht zuletzt erfordert der Wandel eine ganz bestimmte innere Haltung der Führungskräfte.
„Instrumente und Techniken anzuwenden, ist nicht schwer, das lernt sich schnell. Und da dies nur der sichtbare Teil im Handeln (einer Führungskraft SP) ist, verwechselt man oft Kunst mit dem Handwerk“ (Erpenbeck, 2017). Führungskompetenz in Schulungen oder Seminaren erlangen zu wollen, reicht in der Gegenwart nicht aus, so erfahre ich es seit Jahren in meiner Arbeit als Organisations- und Führungskräfteentwicklerin.

Der Wandel von einer vertikalen Führungsstruktur hin zu einer horizontalen Ausrichtung erfordert einen hohen Aufwand an Klärung von Unsicherheiten und Missverständnissen. Damit diese konstruktiv bewältigt werden können, bedarf es sehr wohl einer „Setzung“, die gemeinsam erarbeitet und vereinbart werden sollte. Die Menschen brauchen Leitplanken, innerhalb derer sie sich selbstständig bewegen können. Starke, tragende Visionen, Ziele im Sinne angestrebter Zustände, gemeinsam vereinbarte Werte und Haltungen, klare Spielregeln geben dem täglichen Tun Orientierung. „Selbstorganisation bedeutet, dass Mitarbeiter/-innen, Teams und Einheiten in einem verbindlichen und klar kommunizierten Rahmen selber entscheiden, was sie erledigen können und wie sie dies am besten tun. Damit das gelingt, braucht es klare Spielregeln, die auf allen Ebenen und für alle Beteiligte gleichermaßen gelten, auf die sich alle verlassen können und die, sobald sie nicht mehr hilfreich für den Organisationszweck sind, gemeinsam weiterentwickelt werden können“ (Brinkmann/Lang 2018)

Die Stärkung im Wandel der Führungskultur erfordert sowohl von den Führungskräften als auch von Mitarbeitenden
• sich selbst führen können – Selbstreflexion und Selbsterkenntnis
• ein vertieftes Verständnis vom Umfeld der Organisation
• Vertrauen in das Menschenbild der Theorie Y 2
• Durchhaltevermögen
• wahrgenommene Widersprüche in der Organisation mit Führungskräften und Mitarbeitenden klären, um eine gemeinsame Einschätzung von Dringlichkeit und Wichtigkeit zu entwickeln
• kluges taktisches Abwägen der Unterschiede, auf der Basis übergeordneter Ziele
• Empathie – Ein Team wird umso besser, je höher die Fähigkeit der Empathie der einzelnen Mitglieder und nicht je höher die fachliche Kompetenz ist (Kast, 2015)
• eine von allen als sinnvoll erachtete und gelebte Kommunikationskultur –
• Es braucht dringend Formate und Orte, an denen sich alle Beteiligten sicher sein können, dort schwierige Themen besprechen und Lösungen erarbeiten zu können. Es braucht Formate und Orte in denen tatsächlich kommuniziert (zugehört, gefragt, kritisiert, anerkannt, rückgespiegelt, argumentiert) wird. In diesen Formaten sollten neue Formen der Kooperation und Führung selbst zum Thema werden, gleichgestellt mit anderen relevanten fachlichen, wirtschaftlichen oder strategischen Inhalten
• ein Repertoire von Entscheidungsverfahren kennen und anwenden können z.B. Konsultativer Einzelentscheid, Konsens, Konsent. (Oestereich/Schröder 2017)
• Verlässlichkeit – heißt in Kontakt sein und bleiben und das in Kontaktsein ist es, was uns in einer volatilen, unsicheren, komplexen und ambivalenten Welt Verlässlichkeit geben kann
• Und immer wieder: Bescheidenheit. Sich als Moderator von Lösungsfindungen und Ideen zu verstehen, die von überall her, auch jenseits der Abteilungs- und Bereichs-grenzen, kommen können. Es ist besser nicht mehr wissen zu wollen als die Mitarbeitenden (ManagerSeminare, 2016).

Literatur

Brinkmann, Babette Julia/Lang Matthias: Selbstorganisation braucht klare Regeln. F.A.Z., 16.07.2018
Die Redmont Paradoxie-Studie: „ALLES IST Paradox – Also wird alles gut.“ 2017
Dueck Gunter: Industrie 4.0 digitale Revolution eindrucksvoll erklärt – www.youtube.com/watch?v=7Kv45BUNGyg 2016
Erpenbeck Mechtild: Wirksam werden im Kontakt. Heidelberg 2017
Kast Bus: Und plötzlich macht es Klick! Das Handwerk der Kreativität oder wie gute Ideen in den Kopf kommen. Frankfurt a.M. 2015
Laloux Frederic: Reinventing Organisations. München 2017
Lemoine Jim, Eppler Martin J., Angemessen antworten, in: OrganisationsEntwicklung 4/2015, Seite 4-6
Lipkowski Sylvia: Leadership 4.0. Führen in der digitalen Welt. In: ManagerSeminare, Sep-tember 2016 S. 18-24
Oestereich, Bernd/Schröder, Claudia: Das kollegial geführte Unternehmen. München 2017
Pfläging Niels, Hermann Silke: Komplexithoden: Clevere Wege zur (Wieder)Blebung von Un-ternehmen und Arbeit in Komplexität. München 2016
Sames Gerrit: Industrie 4.0 und Digitalisierung – Was ändert sich für den Mittelstand? Vortrag auf dem 1. Kooperationsforum Waldeck Frankenberg. November 2016

  1. VUKA ist ein Akronym, mit dem verschiedene Facetten der Unübersichtlichkeit der modernen Arbeitswelt umrissen werden: Die moderne Welt ist…
    Volatil: Manche Entwicklungen unterliegen starken Schwankungen, sind wechselhaft
    Unsicher: Wir verfügen nie über alle und selten über alle wesentlichen Informationen, um Situationen zu bewerten und Entscheidungen zu treffen.
    Komplex: Wir haben es mit einer immer weiter steigenden Zahl von Einflussfaktoren und Wechselwirkungen zu tun.
    Ambivalent: Was heute richtig war, kann morgen falsch und übermorgen wieder richtig oder völlig irrelevant sein – Vieldeutigkeit ist das Thema.
    (Vgl. Lemoine, 2015)
  2. Anfang der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts machte Douglas MCGregor auf den Unterschied zweier Menschenbilder aufmerksam. Theorie X: Menschen arbeiten nur unter Druck, müssen angeleitet werden, suchen Pausen und Ablenkung – müssen von selbstmotivierten Managern geführt und kontrolliert werden Theorie Y: Menschen arbeiten gern, wollen wirksam sein, sich entwickeln. Manger unterstützen dabei (Empowerment, Coaching) und sind Vorbilder. (in Anlehnung an: Industrie 4.0 digitale Revolution eindrucksvoll erklärt – Gunter Dueck 2016)
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Sabine Piemeisl (Alle Beiträge sehen)

Geboren 1962 in Nord-Rhein-Westfalen. Mutter eines erwachsenen Sohnes. M.A. Supervision Coaching Organisationsberatung, Dipl. Politologin. Seit 1994 erfolgreich in ihrem Einzelunternehmen als Organisationsentwicklerin, Coach, Supervisorin Trainerin und Mediatorin. Seit 2016 geschäftsführende Gesellschafterin der A.B.C. Consulting & Logistik GmbH.

https://www.piemeisl-consulting.de/

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