[FAQ] Frage 8: Welche Aufgaben kommen der Führung/Leitung bei Selbstorganisation zu? Oder: Führung ist zu wichtig, um sie nur Führungskräften zu überlassen

In zweckrationalen hierarchischen Organisationen beinhaltet die Führungsposition eine Machtbündelung. Bei ihr sollen auf dem Dienstweg alle Informationen zusammenfliessen. Entgegengebrachte Achtung durch Untergebene ist wünschenswert aber nicht zwingend notwendig (Kühl 2011: 71 und 81ff). Machtverteilung und deren Fixierung führt dazu, dass Arbeit sinnlos und langweilig wird (Laloux 2014: 2f). Kühl erläutert nun, dass es für eine Person in der Führungsposition unmöglich ist, alle Grenzen und alle Abläufe im Überblick zu behalten, gleichzeitig Fachwissen zu erwerben und anzuwenden, sowie alle Informationen in nützlicher Frist zu beschaffen, auszuwerten und weiterfliessen zu lassen. Aus dem Vakuum, das aus dieser Unvereinbarkeit entsteht, ergibt sich die Möglichkeit für Untergebene, ihren Einflussbereich zu stärken und daraus folgen auch für die unterste Hierarchieschicht erhebliche Machtquellen (Kühl 2011: 74ff; Kühl/Muster 2016: 9).

So kommt es in der Selbstorganisation zum Wechsel von der Konzentration auf eine Führungsperson hin zur Führung durch alle. Oesterreich/Schröder (2020) fassen dies zusammen unter dem Motto: Führung ist zu wichtig, um sie nur Führungskräften zu überlassen! In ihrem Konzept der «kollegialen Führung» gehen sie davon aus, dass Führung ein selbstverständlicher und integraler Teil der Arbeit aller Mitarbeitenden darstellt. Dazu zählt, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen.

Hierarchische Führung kann manchmal notwendig sein. Wer die Führung dann jedoch übernimmt, hängt einerseits von der Verfügbarkeit ab, sowie dem Wissen, Können und Interesse und auch dem Vertrauen, dass dieser Person gegenüber vorhanden ist. So sind zum Beispiel Purpose Driven und auch die spätere Anpassung in der Soziokratie 3.0 oder die «kollegiale Führung» nicht hierarchiefrei angelegt. Auch in der Holakratie koordiniert der Leadlink das Machtinstrument der Rollenverteilung und kann dies nur partizipativ tun, wenn er das für richtig hält (Robertson 2015: 127f). Rollen können besetzt werden (Laloux 2014: 119f) und nach unserem Erachten auch besetzt gehalten bleiben.

Trotzdem gründet die Selbstorganisation darauf, dass ihre eigentliche Macht in der kodifizierten Selbstorganisation und den klar geregelten Kommunikationswegen liegt, die das Handeln von Machtmenschen begrenzen und sie in ihrer Verantwortung entlasten. So sollen sich Herrschaftshierarchien zu funktionalen Hierarchien verändern (Fink/Moeller 2018: 121f). Oft fallen in Selbstorganisationen die Führungsposten ganz weg, in jedem Fall wird ihre Entscheidungskompetenz stark eingeschränkt und ihr Aufgabengebiet neu definiert. Es geht nicht mehr darum über möglichst viele Menschen die Befehlsgewalt zu haben, mehr Geld als die anderen zu verdienen und sich einen hohen Status zu erarbeiten (Laloux 2014: 286). Grosse Egos mit Motiven aus dem herkömmlichen Denken werden keine Befriedung in Selbstorganisationen erfahren. Karriere muss neu gedacht werden. Statusmarker in Gebäuden, wie Einzelbüros und Extraparkplätze werden in Selbstorganisationen vermieden (Laloux 2014: 167).

Alle Mitarbeitenden erwerben und wenden Führungskompetenzen an, diese sind kein Exklusivrecht des Managements mehr (Fink/Moeller 2018: 139). Macht wird nicht wegdiskutiert, sondern neu auf alle Mitarbeitenden verteilt. Jede angestellte Person hat die Möglichkeit, ihre eigenen Rollen, die mit der ihnen innewohnenden Macht versehen sind, zu definieren und zu besetzen. Die Ausrichtung geht nicht mehr danach, möglichst viel Macht zu akkumulieren, sondern in den Rollen, die jede und jeder ausüben kann, der sich befähigt fühlt und von den anderen das Vertrauen geniesst, konstruktiv mächtig zu sein (Laloux 2014: 135f).

Quellenverzeichnis

Kühl, Stefan (2011) Organisationen. Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Springer Fachmedien GmbH.

Kühl, Stefan/Muster, Judith (2016) Organisationen gestalten. Wiesbaden. VS Springer. DOI 10.1007/978-3-658-12588-2_1

Laloux, Frederic (2014) Reinventing organizations. Nelson Parker. Belgien.

Oestereich, Bernd/Schröder, Claudia (2020) Agile Organisationsentwicklung – Handbuch zum Aufbau anpassungsfähiger Organisationen. München: Vahlen

Robertson, Brian J. (2015a) Holacracy – ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt. München : Franz Vahlen Verlag.

 

Mirjam Buchmann

Selbständige Sozialpädagogin M.A. und Phameotherapeutin

Während rund 20 Jahren arbeitete Frau Buchmann in unterschiedlichen stationären Institutionen (Beobachtungsstation, Massnahmezentrum, Schulheim, Kinderheim, Schulbegleitung; KITA) und absolvierte verschiedene Weiterbildungen (Praxisausbildung, Gewaltberatung/Phaemotherapie). Während des Masterstudiums an der FHNW Olten, Soziale Arbeit, Schwerpunkt Innovation war sie als wissenschaftliche Assistentin an der FHNW vor allem zur Selbstorganisation tätig. Die Masterarbeit behandelt das Thema «Macht in Selbstorganisation». Aktuell arbeitet sie selbständig (www.bebeth.ch) als Dozentin an der FHNW und in der Beratung von Organisationen, Familien und Einzelpersonen mit Schwerpunkt Selbstorganisation, sowie Konflikt/Gewalt

mirjam.buchmann@netzwerkselbstorganisation.net

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Während rund 20 Jahren arbeitete Frau Buchmann in unterschiedlichen stationären Institutionen (Beobachtungsstation, Massnahmezentrum, Schulheim, Kinderheim, Schulbegleitung; KITA) und absolvierte verschiedene Weiterbildungen (Praxisausbildung, Gewaltberatung/Phaemotherapie). Während des Masterstudiums an der FHNW Olten, Soziale Arbeit, Schwerpunkt Innovation war sie als wissenschaftliche Assistentin an der FHNW vor allem zur Selbstorganisation tätig. Die Masterarbeit behandelt das Thema «Macht in Selbstorganisation». Aktuell arbeitet sie selbständig (www.bebeth.ch) als Dozentin an der FHNW und in der Beratung von Organisationen, Familien und Einzelpersonen mit Schwerpunkt Selbstorganisation, sowie Konflikt/Gewalt

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