[Literatur] Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit

von Rutger Bregman (2020) 1

Eine Buchbesprechung von Dr. Urs Kaegi.

Heute bespreche ich ein Buch, das auf den ersten Blick wenig mit Selbstorganisation zu tun hat. Ruter Bregman, ein holländischer Historiker, laut Klappentext «einer der bekanntesten jungen Denker Europas», stellt in seinem umfangreichen Buch mit dem simplen Titel «Im Grunde gut» dar, weshalb häufige Vorstellungen des Menschen auf falschen Prämissen beruhen. An vielen Beispielen bearbeitet er nicht die von Machiavelli, Hobbes und Co. forcierte These, dass der Mensch von Natur aus böse ist und es gilt die Menschen durch Zivilisation voreinander zu schützen, sondern dass wir im Grunde «gut» sind. Sein Buch hat seit Erscheinen hohe Beachtung gefunden, obwohl es, laut Bregman, schwer war einen Deutschen Verleger zu finden.

Ich habe es für eine Rezension im Rahmen des Netzwerks ausgewählt, weil darin die Haltung und eine zentrale Grundannahme der Selbstorganisation bearbeitet wird: das Bedürfnis sich aktiv und zum Wohle des gemeinsamen Ziels in Organisationen einzubringen.

«Im Grunde gut» proklamiert einen «neuen Realismus». Bregman meint damit die Überzeugung, dass «die meisten Menschen im Grunde gut sind». In ganz vielen Beispielen, auf welche ich weiter unten zu sprechen komme, versucht er zu belegen, dass die Überzeugung, dass wir im tiefsten Inneren nicht wilde, von Trieben und nur auf unseren Vorteil fokussierte Wesen sind, welche nur dank Erziehung und Zivilisation einigermassen zusammenleben können. Stattdessen sieht er die meisten Menschen als wohlwollende, aktiv handelnde und kooperative Wesen, welche sich vor allem am sozialen Miteinander ausrichten.

Das Buch (479 Seiten) richtet sich, aus organisationaler Sicht, an keine spezifische Zielgruppe. Es spricht Menschen an, die sich am Diskurs über die Wirkung der Annahme eines Menschen als «Wolf im Schafspelz» versus «sozial-integrativ handelndes Wesen» interessieren.

Ich würde dem Buch 8 von 10 möglichen Punkten geben!


Um was geht es?

Im Zentrum des Buches steht die Diskussion, weshalb der Denkfehler des Menschen als Spezies, welche sich dank Stärke, Intelligenz und List gegenüber den anderen Spezies durchsetzen konnte, entstanden ist, resp. so bedeutend wurde. Dabei geht Bregman der grundsätzlichen Frage nach der Natur der menschlichen Wurzeln aus dem Weg, Die Frage, ob Wolf oder Lamm, stellt er nicht wirklich, sondern er zeigt auf, wie die unterschiedlichen (binären) Denkmodelle entstanden sind und plädiert klar für ein kooperatives Menschenbild. Nicht, weil der Mensch von Natur aus so ist, sondern dieser Blick auf den Menschen viel mehr Entwicklung zulässt, als die ständige Angst vor dem Wolf, der durchbrechen könnte.

Mir gefällt, dass er sich nicht auf die Frage nach der «wirklichen Natur» einlässt, da dies ja doch eher eine Glaubensfrage ist, welche sich zumindest bis heute nicht wissenschaftlich beantworten liess.

Den «guten Menschen» macht er an (zu?)-vielen Beispielen aus Psychologie, Ökonomie, Biologie Archäologie und Geschichte fest. Eine unglaubliche Sammlung, welche ich beim Lesen mit der Zeit übersprang. Ich habe mir dann die Beispiele ausgewählt, die mich interessierten.

Wie ist das Buch aufgebaut?

Der Autor legt bereits im Prolog ausführlich dar, weshalb er sich für ein Menschenbild einsetzt, welches Menschen als im Grunde gut betrachtet. Er meint, dass es sich eigentlich um einen Nocebo-Effekt handelt (negativer Placebo-Effekt), also einer negativen Erwartungshaltung, welche ohne naturwissenschaftlichen Nachweis diese Wirkung erzielt. Diese Haltung wird durch Filme, Forschungsprojekte, Medien u.a. bewirkt, welche versuchen den Eindruck zu erwecken, dass wir «egoistische Tiere» sind, welche von oben herab kontrolliert, reguliert und dressiert werden müssen. Nur so ist es aus diesem Blickwinkel möglich, dass wir zusammenleben können. Bregman nennt dies die Fassadentheorie – wir zeigen eine zivilisierte Fassade hinter der sich im Kern das wilde Tier versteckt.

Im Prolog stellt Bregman diesen Ansatz mit dem Buch und Film «Herr der Fliegen» dar und stellt diesen dann einem wirklichen Ereignis gegenüber, bei dem sechs Jungs während 15 Monaten auf einer einsamen Insel miteinanderleben mussten und sich kooperativ, freundschaftlich und loyal verhielten.

Im Teil 1 («Der Natur-Zustand») werden zwei Quellen genannt, welche den beiden Haltungen zugrunde liegen: Jean-Jacques Rousseau, welcher den Menschen als von Natur aus gut betrachtet, aber durch die Umwelt verdorben wird. Und auf der anderen Seite Thomas Hobbes, welcher den Menschen als von Angst getrieben sieht und deshalb Macht über die andern erlangen will.

Bergman listet, wie es sich für einen Historiker gehört, sorgfältig die Quellen auf, welche zu den beiden Annahmen geführt haben. Er legt dann an verschiedenen Experimenten dar, weshalb es eigentlich heissen müsste «survival of friendliest», ja, dass wir uns sogar in unserem Äusseren so verändert haben, dass wir zum Homo Puppy (S. 86) wurden. Ein wichtiges Indiz in unserer Entwicklung sieht er darin, dass wir als einzige Spezies ausgeprägtes soziales Lernen kennen.

Es folgen dann in den weiteren Kapiteln viele Beispiele, welche darlegen, weshalb sich die Fassadentheorie zu so grosser Beliebtheit aufgeschwungen hat.

Dazu gehören die Geheimnisse um die Osterinseln (ab S. 139), das Stanford-Experiment (ab S. 167), das Milgram-Experiment, die fehlende Hilfe an Kitty Genovese aus den 60er-Jahrn, Machiavelli, und der Strafvollzug (Kap. 17).

Und nicht zu vergessen ein ganzes Kapitel (13) zu Jos de Blook und Buurtzorg. Dabei erfährt man, dass Jos de Blook sein Mitarbeiter nicht motiviert, da er denkt, er würde sie dadurch bevormunden und dass er auch wenig von grossen Visionen hält, um Mitarbeitenden zu motivieren. Sein Menschenbild geht davon aus, dass sein Mitarbeitenden innerlich motiviert sind und selbst am besten wissen, wie sie ihre Arbeit zu machen haben. Leider bringt Bregman in diesem Kapitel noch das Beispiel von FAVI aus dem Buch von Laloux – FAVI ist nach dem Abgang von Zobrist wieder zu alten hierarchischen Strukturen zurückgekehrt… Dieses Kapitel schliesst aber mit einem schönen Satz, den ich nicht vorenthalten möchte: «Denn nichts ist wichtiger als Menschen, die etwas tun, weil sie es tun wollen». (S. 307)

Nicht auslassen sollte man den Epilog, in welchem Bergman «zehn Lebensregeln» benennt und meint damit den Versuch, die neue Welt aus individueller Sicht zu skizzieren. Sehr knapp, auf 15 Seiten, versucht Bergman darzulegen, was man selbst tun kann, um beim Bild des guten Menschen zu bleiben. Obwohl er dann selbstkritisch und treffend meint: «eine bessere Welt fängt nicht bei einem selbst, sondern bei uns an». Treffer!

Meine Highlights

Ich habe versucht das ganze Buch zu lesen, muss aber gestehen, dass mir die vielen interessanten Beispiele irgendwann zu umfangreich wurden. Alle haben zum Ziel zu zeigen, was bei diesen schief gelaufen ist, dass ein negatives Bild vom Menschen gezeichnet wird und wie man die Ergebnisse auch anders interpretieren kann.

Meine Highlights waren die ethnologischen Betrachtungen zu den Osterinseln (Kap. 6) sowie die neue Interpretation von Stanford (Kap. 7) und Milgram (Kap. 8). Aber da hat jede*r wohl seine eigenen Präferenzen. Das Schöne ist: man kann auswählen. Da ist für jede*n etwas dabei.

Mein Fazit

Wer sich für Menschenbilder und Haltungen interessiert, wird sich über Rutger Bregman freuen. Er skizziert ein Menschenbild, welches stark durch die Selbstorganisation gefördert wird, resp. aus dem sich die Notwendigkeit der Selbstorganisation ableiten lässt. Er macht das unprätentiös und wenig missionarisch, trägt äusserts fleissig und akribisch neue Fakten zusammen und konstruiert sich daraus das Bild des «guten Menschen».

Und wer für sich selbst etwas abschneiden will, dem seien hier noch zwei der zehn Lebensregeln aus dem Notizbuch von Bergman verraten (wenn gleich er eigentlich nicht das Individuum in den Fokus rückt):

  • Geh im Zweifelsfall vom Guten aus.
  • Verbessere die Welt, stelle eine Frage.

Viel Spass, Urs Kaegi

Solothurn, den 18. April 2020

  1. Bregman, Rutger (2020). Im Grunde gut – eine neue Geschichte der Menschheit. Hamburg: Rowohlt.
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Urs Kaegi (Alle Beiträge sehen)

em. Professor der Fachhochschule Nordwestschweiz, selbständiger Coach und Organisationsberater

Schwerpunkte: Kooperation in Organisationen, organisationaler Wandel

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Urs Kaegi, c/o EcoSolidar, Dornacherstrasse 192, CH-4053 Basel

Bitte beachten Sie, dass nicht alle eingesandten Bücher in die Literaturempfehlungen aufgenommen werden können. Dafür bitten wir um Verständnis.

urs.kaegi@netzwerkselbstorganisation.net

4 Gedanken zu “[Literatur] Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit”

  1. Vielen Dank für den Tipp – da es bei NEBIS nicht verfügbar ist, habe ich es gleich bei meiner Buchhändlerin bestellt 🙂

  2. Lieber Urs
    Herzlichen Dank für diese differenzierte und überaus spannende Rezension, die zu keinem besseren Zeitpunkt als gerade jetzt hätte erscheinen können. Gerade jetzt, wo so viele von uns so vieles Grundsätzliche in Frage stellen und die Schaf- und Wolfsfrage gerade sehr aktuell scheint. Und wo wir vielleicht im Begriff sind, uns als menschliche Spezies ganz neu zu definieren.
    Also nehme ich gerne mit:
    Geh im Zweifelsfall vom Guten aus. Verbessere die Welt, stelle eine Frage.
    Meine Frage wäre da wohl: Wohin nach Corona? Prof. Franz Hörmann aus Wien hat zu diesem Thema eine ähnlich positive Grundhaltung, interessiert dich vielleicht: https://www.youtube.com/watch?v=teqciIjyNh0
    Nochmals ganz herzlichen Dank für deine geduldige Lektüre diese Buches, Ulrike Stedtnitz

    1. Liebe Ulrike,
      werde mir den Link gerne ansehen! Und: ich nehme gerne Buchempfehlungen entgegen! Mein Credo für diese Rubrik ist, dass ich euch Netzwerker*innen auf interessante Publikationen hinweisen möchte. Es erscheint dazu ja aktuell Vieles. Was aus meiner Sicht bedeutsam ist, stelle ich hier gerne vor,
      herzlich, Urs

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