Beiträge Foren Forum Erfahrungsberichte Erfahrungsbericht Mareike J., Pflegefachperson aus den Niederlanden

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    Dieser Bericht erschien zusammen mit [Artikel] Menschlichkeit vor Bürokratie in der Zeitschrift Krankenpflege | Soins infirmiers | Cure infermieristiche | 03/2020 und wurde uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

    «Zuerst Kaffee und dann die Pflege»

    Die Buurtzorg-Pflegefachfrau Mareike J. schildert, wie sie es im Kontakt mit den Klientinnen und Klienten schafft, den Übergang vom zwischenmenschlichen Austausch zur fachlichen Entscheidung zu finden.

    Ich war unzufrieden in meinem Beruf. Ich kam mir in meinem Pflegealltag vor wie eine Fliessbandarbeiterin – dort eine Spritze setzen, hier einen Verband wechseln, kaum Zeit für ein persönliches Gespräch, immer gehetzt. Dann erfuhr ich vom Buurtzorg-Ansatz. Der hat mich so beeindruckt, dass ich mich vor vier Jahren mit fünf anderen Pflegefachpersonen entschloss, ein Buurtzorg-Team zu gründen. Zurzeit sind wir 10 Teammitglieder.

    Gemeinsame Beziehung aufbauen
    In der heutigen Morgenschicht treffe ich als erstes eine neue Klientin. Beim ersten Treffen folgen wir dem Prinzip «zuerst Kaffee und dann Pflege». Mit Kaffee ist Beziehungsarbeit ge- meint. Es geht darum, eine gemeinsame Beziehung aufzubau- en und das Beziehungsnetz von Bekannten, Verwandten, Nachbarn etc. einschätzen zu können. Wir von Buurtzorg wollen mit der pflegerischen Dienstleistung die Autonomie der Klientinnen und Klienten fördern. Dazu gehört auch, dass wir sie und ihr Umfeld bewusst und gezielt befähigen wollen, bestimmte Pflegetätigkeiten nach unserer Anleitung selber zu verrichten. Trotz vorhandener Unsicherheit überwiegt die Mo- tivation der Pflegebedürftigen, sich auf diesen Ansatz einzu- lassen. Wir setzen beispielsweise das Ziel, dass sie in vier Monaten die Kompressionsstrümpfe ohne Hilfe einer weiteren Person anziehen kann und sind dadurch schon mitten in der Pflegeplanung. Der Übergang vom Kaffee zur Pflege, vom zwischenmenschlichen Austausch zur fachlichen Entschei- dungsfindung, ist fliessend.

    Trotz Wunde ins Schwimmen
    Der letzte Klient der Schicht begrüsst mich etwas gehetzt. «In knapp 40 Minuten startet der Final eines internationalen Schwimmwettbewerbs und den möchte ich in aller Ruhe anschauen.» Währenddem ich den Verband seiner Beinwunde entferne, kommen wir auf das Schwimmen zu sprechen. Er sei früher auf regionaler Ebene vorne mitgeschwommen. Das Schwimmen fehle ihm, aber mit dieser Wunde könne er nun halt nicht mehr in ein Hallenbad. Ich begutachte die Wunde und mache wie gewohnt mit dem Tablet ein Foto davon. Die Wunde sieht besser aus. «Meines Erachtens sollte mit einem wasserfesten Deckverband Schwimmen möglich sein.» «Auch wenn, ich bin ja so schlecht zu Fuss und kann mir ein Taxi ins Hallenbad nicht leisten», erwidert er. «Mir sind im Quartier zwei ehemalige Klientinnen und ein aktueller Klient bekannt, die sich einmal wöchentlich ein Taxi teilen, um gemeinsam Schwimmen zu gehen. Ich kann Ihnen den Kontakt vermit- teln?» Zum ersten Mal lächelt er: «Warum nicht?»
    Im Auto nutze ich die Zeit, um seinen Wunsch mit der Haus- ärztin zu diskutieren. Das Schwimmen sei mit dem adäquaten Verband trotz der Wunde sicher. So eröffnen sich für den Klienten gewisse Chancen: Falls er regelmässig mit anderen schwimmen geht, können Herzkreislauf-Medikamente redu- ziert werden und vielleicht sogar das aufgrund eines Depres- sionsrisikos verschriebene Medikament.
    Auf dem Tablet dokumentiere ich kurz online den Besuch: Weil unser IT-System alle relevanten Stellen verknüpft, genügt es, eine Information einmal einzutragen. Somit hat der Eintrag zum Wundverband zur Folge, dass zu gegebener Zeit die Rechnung für diese Tätigkeit an die Krankenkasse ausgelöst wird. Die Administration mit den Krankenkassen hat sich ohnehin sehr vereinfacht, seit auf Initiative von Buurtzorg die über zehn Pflegetarife auf einen einzigen Tarif reduziert wurden.

    Von einem Coach unterstützt
    Alle Teams werden bei Bedarf von einem Coach unterstützt. Unser Coach wird nur dann selber aktiv, wenn ihm bei den Team-Zahlen etwas auffällt. Als Buurtzorg-Team sind wir verpflichtet, Verschiedenes, beispielsweise Auslastung, Über-/ Unterzeit, Krankheitstage und verrechenbare Stunden quantitativ zu erfassen. Wir können die Zahlen jederzeit abrufen und mit den Durchschnittswerten der 850 anderen Teams vergleichen. So haben wir die nötigen Informationen zur Hand, um unser Team als Ganzes unternehmerisch steuern zu können. Das Backoffice und der Coach können unsere Zahlen einsehen. Sticht ihnen eine positive oder negative Abweichung ins Auge, melden sie sich: «Habt ihr die Abweichung gesehen? Woran könnte das liegen? Kann ich euch helfen? Könnt ihr uns Hinweise für eine Prozessoptimierung geben?» Wir wissen diese Kontaktaufnahmen entweder als Frühwarnsystem zu schätzen, oder sind stolz darauf, wenn sich bei uns eine methodische Verbesserung ergeben hat. Wir geraten nicht in Sackgassen, die keinen Handlungsspielraum mehr zulassen. Als Fazit kann ich sagen: Seit ich in einem Buurtzorg-Team arbeite, ist meine Arbeit ganzheitlicher, professioneller und sehr befriedigend geworden.

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