
Urs Kaegi und Ursula Meyerhofer im Gespräch mit Michael Brenner, CFO bei Weleda zum Thema Selbstführung bei Weleda.
Selbstorganisation in Betrieben. Michael Brenner ist CFO bei Weleda. Eine ziemlich grosse Organisation mit einem Umsatz von CHF 420 mio. und etwa 2’500 Mitarbeitenden, die meisten in der Schweiz und in Deutschland. Wie funktioniert Selbstorganisation bei Weleda? Was ist bei ihnen Selbstorganisation? Was ist geglückt? Wo liegen die Schwierigkeiten? Michael Brenner hat mal gesagt, bei Weleda ist Profit niemals das Ziel gewesen, sondern eine Notwendigkeit. Es geht bei Weleda vor allem darum, die Welt einen besseren Ort zu machen.
„Für mich geht es natürlich immer viel zu langsam. Ich bin ein sehr ungeduldiger Mensch.“
„Es ist immer schwierig, wenn man sagt ‚Wir wollen Selbstorganisation hierarchisch durchsetzen‘. Das ist ein bisschen ein Widerspruch, ob man ihn auflösen kann, weiss ich nicht.“
„Je mehr sich ein Mensch so entwickelt, wie er ist, desto besser ist es auch für die Firma.“
„Menschen wollen ein Wirksamkeit haben im Unternehmen und wollen sich auch wohlfühlen. Sie wollen die Werte, die ihnen wichtig sind, auch im Unternehmen antreffen. Kollegiale Führung und Zusammenarbeit oder Selbstorganisation in der richtigen Form und Weise geht in diese Richtung.“
Urs Kaegi (UK): Würdest du sagen, in Bezug auf Selbstorganisation ist bei euch eine Entwicklung in Gang gekommen, die immer weiter fliesst?
Michael Brenner (MB): Ja, die können wir auch nicht mehr stoppen. Wir haben nicht gesagt, wir zwingen es auf. Wir haben mit einem Workshop einen Impuls gesetzt und wir haben ein Team mit 4-5 Personen. Überall dort, wo ein Problem entsteht, stellen wir uns die Frage, ob wir das mit Kollegialer Führung lösen können. Die können dann dieses Team rufen, dann gibt es viele Experimente in einem ersten Schritt, unterdessen gibt es auch etablierte Formate.
UK: Du hast gesagt, dass ihr das nicht mehr stoppen könnt?
MB: Wir haben gesagt, das muss ein Sog geben und wir haben jetzt einen Impuls gegeben. Wenn wir sagen würden, wir machen das wieder ganz hierarchisch, dann hätten wir heute keine Chance mehr
Für eine gute Zusammenarbeit ist die Grundlage ‚Vertrauen‘. Vertrauen heisst, die Fähigkeit verletzlich zu sein. Mit meinen direkten Mitarbeitenden habe ich kürzlich eine Stunde online Konferenz gemacht. Ich habe meine Kamera ausgemacht, mich auf Stumm gesetzt und sie mussten mich eine Stunde lang kritisieren, damit ich meine eigene Verletzlichkeit mal spüre und da kam eben das mit der Ungeduld, dass ich zu ungeduldig sei. Es war ein tolles Format, um diese Bewusstheit zu erleben.
Wir haben insgesamt fünfzehn Entwicklungslinien definiert: Kooperation, etc.
UK: Und da nehmt ihr manchmal hervor und guckt, wo ihr steht?
MB: Ja. Wir haben beispielsweise im letzten Workshop vier Entwicklungslinien herausgesucht und bearbeitet. Zwei mit Bezug zum Team und zwei mit Bezug auf sich selbst. Dann konnte man einfach mal eine Einschätzung machen z.B. ‚Ich merke, wenn ich starke emotionale Änderungen habe.‘ dann geht’s darum zu schauen, ist es zu viel, ist es zu wenig, dann sieht man schnell, wo man steht. Was habe ich gut integriert, was nicht, um die nächste Schritte zu planen.
UK: Wie viel Zeit nimmt so etwas in Anspruch? Ich denke, da kommt dann schnell die Frage, ob das noch produktiv ist?
MB: Natürlich, der Workshop selber ist an sich nicht produktiv, aber ich bin felsenfest überzeugt, wenn wir es schaffen, dass sich die Menschen Menschengerecht entwickeln können, dann schlägt sich das automatisch in Produktivität nieder, wobei Produktivität ein etwas irreführendes Wort ist. Wir sind noch so geprägt, Produktivität ist gleich, etwas zu tun, das den Profit erhöht. Produktivität kann auch sein, dass die Anpassungsfähigkeit gesteigert wird, dass ich den Unternehmenssinn besser ins Leben bringen kann, dass ich zufriedene Mitarbeitende habe, weil sie sich wohl fühlen und ich dadurch vielleicht bessere Mitarbeitende bekomme, als meine Konkurrenz.
UK: Bei Laloux ist es so, dass Mitarbeitende hohe Transparenz haben, wo der Betrieb gerade steht, wie der Betrieb vorankommt, ökonomisch gesprochen oder so. Macht ihr das auch?
MB: Das ist eine grosse Herausforderung, weil wir eine hohe Komplexität haben. Wir haben zwei völlig unterschiedliche Geschäftsfelder: Naturkosmetik und Heilmittel, sprich Medikamente. Eine grosse Produktpalette, insbesondere bei den Heilmitteln. Wir sind in 24 Ländern tätig. 2’500 Mitarbeitende. Und wir haben eine sehr hohe vertikale Integration. Wir züchten Samen bis hin in unsere City-SPAs, wo wir die fertigen Produkte den Menschen einmassieren. Es zeigt einfach die hohe Komplexität. Wir berichten jeweils wo wir gerade stehen und auch die Abteilungen werden angehalten, ihre Finanzzahlen gut zu besprechen. Ob sie es tun, kann ich jetzt nicht sagen. Aber das ist eine Herausforderung, die Komplexität so zu vermitteln, dass jede:r seinen Teil dazu trägt.
UK: Was ist bezüglich der Veränderung der Entscheidungsstruktur geschehen? Habt ihr neue Entscheidungsformen eingeführt?
MB: Was sich überall etabliert hat, wenn wir die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen, ist der Konsent mit dem schwerwiegenden Einwand. Das spannende ist, das hat zwei Effekte und das haben wir wirklich gemessen. Das erste ist, die Geschwindigkeit erhöht sich unglaublich bei Entscheidungen. Das zweite ist, ich kann die Verantwortung nicht abgeben. Beim autoritären Entscheid, da frage ich mal den Chef oder die Chefin, wenn er oder sie ‚Ja‘ sagt, ist es seine oder ihre Verantwortung. In einem Konsent erhalte ich kein ‚Ja‘ und das heisst, die Verantwortung bleibt bei mir. Ich spüre, dass viele dann viel verantwortungsvoller mit Entscheidungen umgehen.
UK: Häufig werden schwerwiegende Einwände geltend gemacht, die eigentlich keine sind, sondern eher Bedenken sind.
MB: Bei uns ist klar, dass ein schwerwiegender begründeter Einwand, der muss begründet sein und das ist immer aus der Rolle heraus der Einwänder:innen. Wenn ich einen Einwand habe, bin ich verpflichtet, eine Lösung zu suchen. Dann überlege ich mir schon, ob ich meine Meinung bringe, denn ich muss ja dann auch mithelfen diesen Einwand zu integrieren. Ich sehe, dass es fast noch ein bisschen schwierig ist, dass die Leute Verantwortung übernehmen, einen schwerwiegenden Einwand zu machen, wenn sie einen machen müssen.
UK: Weil es zu anstrengend, zu schwierig ist, eine Lösung zu finden?
MB: Ja, weil ich weiss, ich bin dann noch nicht fertig. Aber im Normalfall klappt das eigentlich sehr gut.
UK: Und das läuft mit im Alltag? Dann muss man nicht sagen ‚wir machen es im Konsent‘ sondern es wird einfach im Konsent gemacht?
MB: Ja. Also in der Geschäftsführung, wir sind zu viert, da fragen wir ‚Wollen wir das im Konsent machen oder wollen wir das zuerst noch diskutieren‘ und wenn ich etwas will, dann schreibe ich eine E-Mail und im Normalfall ist es in einer Stunde entschieden.
UK: Wie setzt ihr Selbstführung durch?
MB: Es braucht schon noch ein Nudging wie man das heute so nennt und das machen wir so, dass wir ein Transformationsteam haben. Das ist so ein lockerer Zusammeschluss. Das wird auch von uns, von der Personalentwicklung geführt und ein bisschen geschaut, dass die Meetings stattfinden, dann sind etwa 10-12 Leute und wir schauen immer, dass wir in den Bereichen jemanden haben, den:die wir dann reinnehmen, dann gibt es Austausche ‚Ihr habt jetzt keinen Abteilungsleiter mehr? Wie habt ihr das gemacht?‘ und dann lernt man voneinander und wir berichten an jeder Mitarbeitendenorientierung, die wir vier mal im Jahr haben für alle Mitarbeitenden.
UK: Ihr würdet aber nicht hingehen und sagen ‚Ihr macht noch hierarchische Entscheidungen, stellt doch endlich mal um‘
MB: Das ist einfach nicht realistisch. Das braucht ein Wollen, die Verantwortung zu übernehmen. Das kann man nicht einfach überstülpen.
UK: Es gibt einige, die sagen, ‚Das geht doch nicht, das sind doch unterschiedliche Kulturen in der Organisation‘ du sagst ‚Kein Problem‘
MB: Es ist machbar. Es gibt wirklich Bereiche, wo noch nicht viel in Richtung geteilte Verantwortung geschieht. Da geht’s dann eher so in Richtung Empowerment, was nicht ganz Kollegiale Führung ist, aber das ist auch gut so. Dann gibt es aber auch Abteilungen, die quasi prädestiniert sind, wenn ich z.B. an HR denke, da kann ich nicht mehr mit Hierarchie kommen. Was auch etwas gutes ist, was gut funktioniert: wir arbeiten viel mit Experimenten. Also diese sogenannte Kontextbrücke zu machen. Etwas neues auszuprobieren, das löst immer Ängste aus. Projekte haben immer diesen Touch ‚Ein Projekt muss gelingen. Es kann nur gelingen oder scheitern.‘ Bei einem Experiment gibt es hingegen einfach ein Outcome, das ist weder gut noch schlecht. Und da bin ich dabei, dies noch zu pushen. Wir gehen jetzt noch mehr an die Führungsthemen ran. Wir lassen es offen, aus drei Modellen auszuwählen: das klassisch hierarchische, das zweite ist mit einem starken Empowerment mit Delegation Poker und das dritte ist mit ganz verteilter Führung. Das heisst, man teilt die Führungsarbeit in Rollen auf z.B den Ökonomen, den Strategen, Team Coach, Entwicklungsbegleiter und den Repräsentant. Mitarbeitende können sich dann melden, welche Rolle sie haben möchten. Dann sind die Rollen verteilt. Es ist ein Experiment.
UK: Performance und Wohlfühlen, wie geht das zusammen?
MB: Schlussendlich geht es um Businessperformance. Es ist kein ClubMed. Aber ich glaube man kann sich dieses etwas mehr wohlfühlen in der Firma und gleichzeitig aber auch die Leistung der Firma (ich sage nicht Profit, Leistung ist immer Purpose and Profit), dass wir das gut verbinden können. Das ist zumindest meine Beobachtung. ich habe noch keinen Gegenbeweis gefunden. In zwei Jahren sieht es vielleicht anders aus, aber bis jetzt… Ich sage, dass die Leute gerne Verantwortung übernehmen und gerne gestalten.
UK: Beeinflusste Covid-19 die Zusammenarbeit?
MB: Also für uns hat sich während Corona nicht viel geändert in der praktischen Zusammenarbeit. Wir hatten Glück, zwei Monate vor Corona hatten wir Office 365 und Teams installiert für alle. Da konnten wir alle ins Home Office schicken. Was sicher geholfen hat, weil wir mit flachen Hierarchien arbeiten, die Mitarbeitenden sind untereinander schon besser vernetzt, weil sie selber auf verschiedene Personen zugehen können und die Informationen nicht zuerst nach oben und dann auf der anderen Seite wieder runter gehen müssen, sondern direkt von A nach B gehen. Da hat die Kollegiale Führung oder Selbstorganisation dabei geholfen, die Umstellung durch Corona, die Unsicherheit besser handhaben zu können. Das war für uns relativ unproblematisch.
UK: Was merken Kundinnen und Kunden von der Selbstorganisation?
MB: Nichts.
UK: Sie nehmen Weleda als das Produkt wahr, aber nicht die neuen Entscheidungswege?
MB: Nein, das mit den Entscheidungswegen merken sie nicht.
UK: Mit diesen Gewinnen in der Zusammenarbeit durch die agilere Organisationsform könntet ihr auch als Marketing nutzen, um euch zu Profilieren.
MB: Also ich glaube dem Konsumenten, der uns im Regal sieht, dem ist es nicht so wichtig. Aber was wir schon sehen, wenn wir an die Arbeitgeber-Marke denken, wir sind ja nicht nur eine Produkte-Marke sondern auch eine Arbeitgeber-Marke und das wird ja immer wichtiger, ich habe erst kürzlich ein Zitat eines HR Verantwortlichen eines grossen Unternehmens gehört, der sagte ‚in Zukunft gewinnt nicht der, der neue Kunden findet, sondern der, der noch MItarbeitende findet‘ und das heisst, es wird immer wichtiger.
UK: Ein Vorteil den ihr jetzt habt ist Agilität, was meinst du mit Agilität?
MB: Agilität meint, wie schnell ich mich verändern oder anpassen kann. Wir sind agiler geworden, aber das ist denke ich ein Thema bei ganz vielen Firmen, weil alles immer schneller geht. Aber geholfen hat bestimmt dieser Konsent entscheid, der viel schneller ist. Dann die verteiltere Autorität, dass wir Kompetenzen abgegeben haben. Wir sind jetzt keine riesige Firma, aber alle Projekte bis 2 Mio. Infrastrukturprojekte oder IT Projekte, die gehen nicht mehr über die Geschäftsleitung. Erst ab 2 Mio. Das heisst, die Entscheidungen können dort getroffen werden, wo auch das Fachwissen ist und die Lebendigkeit. Und dann eben die Tools, ich habe Teams erwähnt, dass man schnell zusammen kommt. Teams hat sich auch stark entwickelt. Man kann Dateien ablegen, wir arbeiten mit dem Planner, wir arbeiten viel mit Scrum, was hilft die Dinge schneller zu machen, es erhöht auch die Transparenz, wo wir gerade stehen in einem Projekt.
UK: Dass möglichst viele Leute auch Zugriff haben, dass sie auch reinsehen können. Das ist ein wichtiger Teil, wenn ich Entscheidungen treffen muss, dass ich auch die Informationen bekomme.
MB: Genau, ja.
UK: Wird Selbstorganisation von unten oder von oben implementiert?
MB: Also zuerst hatten wir ja dieses Top-down ‚Das ist das Modell. Schaut es euch mal an.‘. Jetzt haben wir viele Beispiele und jetzt beginnt es auch von unten, dass Mitarbeitende auch Führungskräfte, die noch nicht so in diese Richtung gearbeitet haben, das auch ein ein bisschen einfordern, also da nimmt der Druck schon zu. Da gehen wir auch rein, wenn wir solche Signale hören, da müssten wir uns auch von ein paar Führungskräften trennen, die das einfach nicht zulassen wollten.
UK: Das finde ich interessant. Vor 2-4 Jahren wollten wir eine Forschung machen zu Selbstorganisation von unten, aber wir waren der Meinung, das gibt es nicht, Organisation ist immer ‚Änderung von oben‘. Bei euch kam die Veränderung schon mal von oben. Jetzt wo die Kultur gewachsen ist, die Angebote da sind, beginnt es doch von unten nach oben zu wachsen und das betrifft das mittlere Management. Oder?
MB: Ja, aber das ist auch eine grosse Verantwortung des oberen Managements dieses mittlere Management gut mitzunehmen. Wir merken das auch ‚Selbstorganisation, dann braucht es uns nicht mehr, ihr wollt uns alle los haben‘ aber wir sagen Führung braucht es immer. Vielleicht gibt es am ANfang noch eine Führungskraft, die dann mehr mit Empowerment arbeitet, möglichst viel oder Stufe für Stufe Verantwortung abgeben. Einige Führungskräfte freuen sich, wenn sie sehen ‚Ich bin Transformationscoach, ist doch cool!‘. Aber am Anfang sind sie eher so ‚Shit, mich braucht’s nicht mehr‘ aber nein ‚Gerade jetzt braucht es mich‘.
UK: Wenn wir in fünf Jahren noch einmal zusammensitzen, wo steht ihr dann?
MB: Das ist eine gute Frage, keine Ahnung. Ich habe wirklich keine Ahnung, weil wir lassen diesem Weg auch eine gewisse Offenheit, wohin er uns führt. Also ich glaube schon, dass wir dann noch viel agiler sind. Dass wir in der Geschäftsführung noch weniger Entscheidungen treffen werden und dass wirklich diese Transparenz noch höher wird, dass jeder sieht, wo wir stehen, was mein Impact, was kann ich tun. Und wenn wir es ganz ganz gut machen, dann sitze ich nicht mehr hier, weil es mich gar nicht mehr braucht.
Videos in dieser Reihe:
- [Video] Selbstorganisation bei HEKS. Ein Gespräch mit Bernard DuPasquier, ehemaliger Vizedirektor.
- [Video] Selbstorganisation bei der Fachstelle Kinderbetreuung Luzern. Ein Gespräch mit Franziska Beer.
- [Video] Selbstorganisation bei Heime Kriens. Ein Gespräch mit Zoran Nacev.
- [Video] Selbstführung bei Weleda. Ein Gespräch mit Michael Brenner.