[Artikel] Buurtzorg in der Schweiz: Kann das funktionieren?

Abstract

Im Auftrag der Spitex-Organisationen Bern, Region Olten und Zürich Limmat hat ein Forscherteam der Fachhochschule Nordwestschweiz untersucht, ob und wie das niederländische Versorgungsmodell Buurtzorg auch in der Schweiz Einzug halten könnte. Dabei wurde klar: Hierfür bräuchte es ein umfassendes Umdenken.

Einleitung

Zufriedene Pflegebedürftige, zufriedene Mitarbeitende in den Pflegeeinrichtungen, zufriedene Partnerschaften im Umfeld, ein vertrauensvolles Klima zwischen Angehörigen und Pflegekräften, ein sich sorgendes Umfeld. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Diskussionen in und um die Pflege klingt dies fast zu schön, um wahr zu sein. In den Niederlanden allerdings existiert diese schöne neue Welt bereits, nämlich unter dem Namen «Buurtzorg» – «Buurt» bedeutet im Niederländischen «Nachbarschaft»; «Zorg» steht für «Sorge». Hinter Buurtzorg verbirgt sich ein ambulanter Pflegedienst mit einer Organisationsform, die auf Vertrauen und Selbstorganisation beruht. Buurtzorg, 2006 gegründet, richtet seinen Fokus konsequent auf die Bedürfnisse der pflegebedürftigen Menschen. Die inzwischen rund 15 000 Mitarbeitenden in den Niederlanden arbeiten in selbstorganisierten Teams von höchstens 12 Personen, die von insgesamt lediglich 50 Mitarbeitenden im Bereich «zentrale Funktionen» unterstützt werden. Evaluationen des Modells kommen zum Ergebnis, dass sich Buurtzorg positiv auf die Pflegequalität auswirkt und gleichzeitig die Motivation der Mitarbeitenden hebt. Zudem sei es kostengünstiger als bisherige Modelle in den Niederlanden (für eine genauere Beschreibung des Modells Buurtzorg siehe Spitex Magazin 01/18).

Doch ist das, was in den Niederlanden anscheinend so wunderbar funktioniert, auch übertragbar auf schweizerische Verhältnisse? Was braucht es, damit ein Pflegebeziehungsweise ein Organisationsmodell nach Buurtzorg in der Schweiz gelingen kann? Ein Forscherteam der Fachhochschule Nordwestschweiz, bestehend aus Vertretern der Hochschule für Soziale Arbeit und der Hochschule für Wirtschaft, hat untersucht, ob sich Buurtzorg auch hier umsetzen lässt beziehungsweise welche Faktoren für eine gelingende Umsetzung wichtig sein könnten. Die Machbarkeitsanalyse wurde von der Spitex Bern, der Spitex Region Olten und der Spitex Zürich Limmat in Auftrag gegeben (siehe Infokasten). Im Rahmen der Studie wurden zunächst die Pflegesysteme der Niederlande und der Schweiz miteinander verglichen. Anschliessend wurden Gespräche mit Expertinnen und Experten der Spitex und der Krankenkassen sowie mit anderen Forschenden geführt. Abgerundet wurde die Forschung durch einen Besuch von Buurtzorg vor Ort in Almelo in den Niederlanden.

Eine Kultur des Vertrauens entwickeln

Vorab: Wahrscheinlich gibt es unzählige Gründe, Bedenken und Vorbehalte, die dazu führen könnten, den Weg der Buurtzorg-Umsetzung nicht zu gehen. Wie die Forschungsergebnisse auf der Basis vieler Gespräche, Beobachtungen und Studien zeigen, lohnt es sich aber, darüber nachzudenken, ob und wie dieses Modell auch in der Schweiz umgesetzt werden kann. Einfach wird dies allerdings nicht, denn dies ist kein Modell, das nur zum Ziel hat, die (mittlere) Führungsebene abzuschaffen oder die Kosten zu reduzieren. Das entscheidende Element ist die Entwicklung einer Kultur des Vertrauens. Und dies auf vielen Ebenen: Es braucht das Vertrauen zwischen den Mitarbeitenden im Team und dem Management, zwischen Pflegebedürftigen und Pflegekräften, zwischen Pflegekräften und der Community (Nachbarschaft, Sozialraum), zwischen den Einrichtungen und dem organisationalen Umfeld (Ärzte usw.) – und nicht zuletzt auch Vertrauen zwischen den Kassen, den Kantonen und den Spitex-Organisationen.

Das Schwierige dabei ist: Diese Kultur des Vertrauens kann nicht verordnet werden. Man muss sie leben, entwickeln, pflegen und immer wieder erneuern. Für Buurtzorg bedeutet dies, dass sich die einzelnen Teams durch eine grösstmögliche Autonomie und durch das Fehlen einer festgeschriebenen Hierarchie auszeichnen. Davon ausgenommen sind unabhängige und temporär funktionale Hierarchien, die sich immer wieder aufs Neue ausbilden. Generell bedeutet dies ein anderes Verständnis von Führung und Management: Führungspersonen sind in erster Linie nicht mehr Entscheider, da Entscheidungen nach Buurtzorg fast ausschliesslich auf Teamebene getroffen werden – Führungspersonen sollen «Ermöglicher» sein. Ein weiteres Wesensmerkmal des Ansatzes von Buurtzorg ist die konsequente Reduktion von Komplexität im Pflegealltag. Dies betrifft sowohl die internen Abläufe wie auch die Beziehungen zur Klientel, zu anderen Stakeholdern und zu organisationsinternen Stellen. Für die Bedarfsfeststellung und damit die Pflegeplanung wird nicht mehr kleinteilig wie im RAI-HC gedacht, sondern es werden Budgets vereinbart (Omaha-System), auf welche die Pflegebedürftigen Anspruch haben. Das jeweilige Budget wird gemeinsam von der Pflegekraft und der pflegebedürftigen Person verwaltet. Darüber hinaus werden in erster Linie die Wirkungen dokumentiert und weniger die Leistungen. Die Krankenkassen tragen dieses Verfahren mit.

Ein langer Weg in Richtung Buurtzorg

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt von dem, was es tatsächlich braucht, um den Buurtzorg-Ansatz auch in der Schweiz umzusetzen. Zu potenziellen Erfolgsfaktoren gehören darüber hinaus ein gutes Coaching-System für die Teams, ein Controlling-Verständnis, das sich klar von Kontrolle abgrenzt und auf Unterstützung ausgerichtet ist, eine geeignete EDV-Infrastruktur, in der neben der Dokumentation auch der Austausch untereinander möglich ist, und nicht zuletzt ein partizipatives Entscheidungsverfahren auf Teamebene und im kleinen Management-Backoffice.

Die Studie hat gezeigt, dass der Weg in Richtung Buurtzorg-Ansatz schwer und lang ist. Insbesondere der Praxisbesuch in Almelo in den Niederlanden machte aber klar, dass es sich für alle Beteiligten lohnt – sowohl bezüglich der Zufriedenheit aller Beteiligten als auch monetär, nicht zuletzt durch die radikale Verkleinerung des Management-Overheads.

Von dem Versuch einer «Eins zu eins»-Umsetzung von Buurtzorg, folglich einer Kopie des Ansatzes – dies haben die Verantwortlichen in den Niederlanden bestätigt – ist allerdings abzuraten. Buurtzorg kann in der Schweiz nur dann gelingen, wenn die lokalen Realitäten beachtet und vor diesem Hintergrund Veränderungsprozesse in Gang gebracht werden. Wie bei jeder Organisationsveränderung – und bei diesem grossen Änderungsprozess ganz besonders – erfordert dieser Weg Mut und Klarheit.

Auftraggeber glauben an Buurtzorg

Initiantin der Machbarkeitsstudie der Fachhochschule Nordwestschweiz zur Umsetzung von Buurtzorg in der Schweiz war die Spitex Bern, daraufhin stiessen die Spitex Region Olten und die Spitex Zürich Limmat dazu. «Die Studie war sehr aufschlussreich», sagt Markus Gutknecht, Geschäftsführer der Spitex Region Olten. «Das Wichtigste war der Besuch in Holland, der tiefe Einblicke in das System Buurtzorg gewährt hat.» Interessiert sind die Auftraggeber am niederländischen Versorgungsmodell aus mannigfaltigen Gründen: Das hierarchische Management weise Unzulänglichkeiten auf und sei wohl noch schwieriger umzusetzen angesichts der dezentralen Leistungserbringung bei der Spitex, sagt Gutknecht.

Die Auftraggeber wollen darum ihren Mitarbeitenden an der Basis mehr Autonomie verleihen. In den Niederlanden führte dies schliesslich zu einer höheren Zufriedenheit von Mitarbeitenden und Klienten und einer verbesserten Vernetzung. Ganz klar nur Nebenerscheinungen, wenn auch zu begrüssende, sind laut Gutknecht die hohe Wirtschaftlichkeit des Modells und dass es weniger Personal im Backoffice erfordert, was in Zeiten des Fachkräftemangels zu begrüssen sei. Die involvierten Spitex-Organisationen beginnen nun damit, sich mit der Einführung von Buurtzorg auseinanderzusetzen oder das Modell sogar Schritt für Schritt auszuprobieren. Dies, indem ihre Mitarbeitenden sukzessive mehr Aufgaben selbstständig ausführen, wodurch die Arbeit des Backoffices reduziert werden kann. «Wir stehen alle noch am Anfang», sagt Gutknecht. Über die Buurtzorg-Pilotprojekte wird darum in einer kommenden Ausgabe berichtet – wenn erste Erkenntnisse vorliegen.

Einfach dürfte die Umsetzung von Buurtzorg in der Schweiz laut der Machbarkeitsstudie nicht werden. Doch Gutknecht hegt keine Zweifel daran, dass dies gelingen kann. «Schliesslich gibt es keine wesentlichen kulturellen Unterschiede zwischen der Schweiz und den Niederlanden.» Die Spitex-Organisationen müssten aber eine historisch gewachsene, hierarchische Organisation neu ausrichten. «Das braucht Zeit, Geduld und ganz viel Vertrauen in die Vorzüge der Selbstorganisation. Eine Kultur des Vertrauens kann man zum Beispiel nicht verordnen, diese muss wachsen.» Einiges werde man zudem anders umsetzen als in den Niederlanden, also an die Schweizer Verhältnisse anpassen – so wie es in den Studienergebnissen empfohlen wird. Beispielsweise setzt das ursprüngliche Buurtzorg-Modell ausschliesslich auf Pflegefachpersonal mit Ausbildung auf Tertiärstufe. «Wir arbeiten aber weiterhin mit gemischten Teams mit FaGe», sagt Gutknecht. «Dies hat sich so bewährt.»

Die grossen Unterschiede zwischen der Schweiz und den Niederlanden lägen nicht in der Kultur, sondern in den Rahmenbedingungen der Gesundheitsbranche, ergänzt Gutknecht. «Die Niederlande kennen zum Beispiel keine Versorgungspflicht. Organisationen handeln ihre Tarife direkt mit den Krankenkassen aus.» Die Kassen vertrauten den entsprechenden Organisationen wegen der hohen Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit des Buurtzorg-Modells und liessen ihnen viele Freiheiten. «Was in der Schweiz diesbezüglich möglich ist, wird die Zukunft zeigen.» Er gehe indes davon aus, dass die flächendeckende Einführung von Buurtzorg hierzulande nie ein Thema sein wird, da die Spitex-Landschaft äusserst heterogen und im Wandel sei. «Verschiedene Managementansätze werden künftig wohl nebeneinander existieren und sich konkurrieren», sagt er. «Wir sind jedenfalls überzeugt, dass wir mit der Selbstorganisation den richtigen Ansatz gewählt haben.»

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Artikel ID

2019_1_21-24

Empfohlene Zitierweise

Dieser Beitrag wurde uns freundlicherweise von Spitex zur Verfügung gestellt und sollte wie folgt zitiert werden:

Enrico Cavedon/Christoph Minnig/Peter Zängl (2008). Buurtzorg in der Schweiz: Kann das funktionieren? In: Spitex Magazin. Fachzeitschrift von Spitex Schweiz |3/2008 |Juni/Juli | S. 13-15.

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Prof. Dr. Christoph Minnig (Alle Beiträge sehen)

Hochschule für Wirtschaft, Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW

Leiter des Institutes Nonprofit- und Public Management. Dozent für Organizational Behavior mit Schwerpunkt Organisationstheorie, Changemanagement und Kooperation.

https://www.fhnw.ch/de/die-fhnw/hochschulen/hsw/nppm

christoph.minnig@netzwerkselbstorganisation.net

Lic. phil. MA Enrico Cavedon (Alle Beiträge sehen)

Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW.

Schwerpunkte: Sozialfirmen, Unternehmen der beruflichen und sozialen Integration, Menschen mit Beeinträchtigung, Berufliche Eingliederung, Wirkungsmessung, Evaluation.

https://www.fhnw.ch/de/die-fhnw/hochschulen/soziale-arbeit/institute/institut-beratung-coaching-und-sozialmanagement

Prof. Dr. Peter Zängl (Alle Beiträge sehen)

Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW

Schwerpunkte: Arbeits- und Organisationssoziologie, Sozialmanagement, Social-Impact-Modell, Zivilgesellschaft, Entscheidungen in Organisationen.

https://www.fhnw.ch/de/die-fhnw/hochschulen/soziale-arbeit/institute/institut-beratung-coaching-und-sozialmanagement

peter.zaengl@netzwerkselbstorganisation.net

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