[Video] Selbstorganisation bei der Fachstelle Kinderbetreuung Luzern. Ein Gespräch mit Franziska Beer.

 

Selbstorganisation bei der Fachstelle Kinderbetreuung Luzern. Ein Gespräch mit Franziska Beer, Geschäftsleiterin.

Urs Kaegi und Ursula Meyerhofer im Gespräch mit Franziska Beer, Geschäftsleiterin Fachstelle Kinderbetreuung Luzern.

Selbstorganisation in Betrieben. Heute mit Franziska Beer, Fachstelle Kinderbetreuung Luzern. Die Fachstelle Kinderbetreuung Luzern betreut 90-100 Pflegeeltern, die pro Jahr widerum 120-130 Kinder betreuen.


„Zwei Mal im Jahr machen wir so Schulungen zu bestimmten Themen. Es gibt einen Lernkreis Soziokratie, da wählen die Mitarbeitenden auch die Mitglieder dieses Kreises, und dieser organisiert zwei Mal im Jahr Veranstaltungen“

„Das finde ich bis heute eine anspruchsvolle Stelle das Onboarding der neuen Mitarbeitenden. Die bisherigen, die sind alle mit dem grossgeworden. Sie haben mitentschieden, was nehmen wir, was nehmen wir nicht. Für die neuen Mitarbeitenden ist es teilweise anspruchsvoll, zu verstehen, wie das ganze funktioniert.“

„Da ist immer die Frage von Selbstbild und Fremdbild. Das Selbstbild haben wir letzten September wieder einmal mit allen aus unserer Geschäftsstelle abgeholt: was würdet ihr nicht mehr hergeben von dem was wir erreicht haben, wofür hat sich die ganze Entwicklung gelohnt. Da war es schön, zu sehen, dass so Stichworte kommen wie Wertschätzung, jede:r kann sich beteiligen, die Wissensverbreitung, aber auch Instrumente wie Boards, Rollen, Stand-ups (kurze Besprechungen). Da gibt es vieles, das würde man nicht mehr hergeben.“

„Wir haben eine Standortbestimmung gemacht mit dem Soziokratieberater. Einfach um zu schauen, was macht der Vorstand, was macht der Betrieb, damit es nicht zu sehr zu Spannungen führt. Es gibt natürlich die rechtlichen Themen, die hat es in unserem Vorstand immer wieder gegeben, weil auch Jurist:innen da drin sind. Die Trennung von operativ und strategisch ist immer wieder ein Thema, das bei uns auftaucht.“

„Der Entwicklungsplan ist dann immer schön. Alle, die hier sitzen, übernehmen eine Aufgabe, manchmal muss ich selber gar nichts tun.“


Wie es zu Selbstorganisation bei der Fachstelle Kinderbetreuung kam

Urs Kaegi (UK): Franziska Beer, herzlich Willkommen. Du hast dich bereit erklärt, mit mir ein Gespräch zu führen, wie ihr bei der Fachstelle Kinderbetreuung, Selbstorganisation umsetzt. Wir haben schon ein Vorgespräch gehabt und ich habe dich beim Vorgespräch schon einmal gefragt, wie seid ihr dazu gekommen. Du hast mir dann gesagt, dass du die Fachstellenleitung vor einigen Jahren übernommen hast, aber vorher schon, bei der Fachstelle gearbeitet hast. In dem Zusammenhang hast du ja damals gesagt, wenn ich die Leitung übernehmen würde, möchte ich die Verantwortung teilen. Hab ich das richtig in Erinnerung? War das wirklich so der Grund, dass du damals gesagt hast, wir steigen mit Selbstorganisation ein?

Franziksa Beer (FB): Ja, vielen Dank für die Einladung. Ich erzähle natürlich gerne den Weg, den wir gemacht haben auf der Fachstelle Kinderbetreuung Luzern. Es ist ein längerer Weg, bis wir da gelandet sind, wo wir heute sind. Ein selbstorganisierter Betrieb mit dem Modell der Soziokratie. Ich wusste einfach, die Fachstelle ist jetzt 31 Jahre alt und der Gründer und Pionier der Fachstelle im 2019 in Pension gehen würde. Und das war der Anlass, zu überdenken, wie machen wir diesen Wechsel, wenn so jemand nach 29 Jahren geht? Das ist eine riskante Stelle in einer Organisation, da ist noch viel Pioniergeist drin beim Gründer und Pionier. Und in diesem Zusammenhang haben wir überlegt, was wäre eine gute Möglichkeit und sind dann auf selbstorganisierenden Teile gestossen.

Gemeinsam Führen – Verantwortung übernehmen

UK: Du hast mir im Vorgespräch gesagt, dass es vor allem darum ging, auch die Verantwortung breiter aufzuteilen. Das war so deine Motivation, oder?

FB: Ja, meine Motivation, die Nachfolge von Pionier anzutreten, war wirklich zu sagen, ich mache das nicht alleine. Wir machen das gemeinsam und wir machen auch den Weg bis dahin gemeinsam. Das war eigentlich der Treiber. Wir haben die ganze Umstellung, ein Team aus zehn Leuten, ein Implementierungsteam, gemeinsam miteinander vorbereitet, geschaut welche Lösungen, welche Wege können wir gehen. Es war schon im Transformationsprozess ein grosses Team, das miteinander diesen Weg gemacht hat.

UK: Wie lange hat das gedauert, diese Transformation? 2019, glaube ich, hast du dann die Leitung übernommen?

FB: Ja, Anfang 20 habe ich dann die Leitung übernommen. Das war noch so eine unschöne Stelle zusammen mit unserer Trägerschaft. Eigentlich wollten wir ein Zweier oder ein Vierermodell an der Spitze, im obersten Kreis, und da hat dann unsere Trägerschaft einen Moment lang etwas Sorge bekommen, wie das wirklich gehen könnte und hat sich dann ausbedungen, eine Funktion Geschäftsleiterin auch in die Zukunft mitzunehmen, trotz dem soziokratischen Modell.

UK: Dieses Anliegen, Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen, du machst das jetzt seit drei Jahren, hast du das Gefühl, das ist geglückt?

FB: Also, was sicher geglückt ist, ist dieser Transformationsprozess von hierarchischem Pioniergeist, der noch herrschte, bis Ende 2019, in einen soziokratischen Betrieb. Das ist sicher geglückt. Und was ich stolz bin auf uns alle, was wirklich geglückt ist, dass wir alle Menschen mitnehmen konnten. Ich hatte grosse Sorgen, und das wurde mir auch sehr oft erzählt von so Organisationsberatungsmenschen, solche Wechsel heissen immer, die fachliche Qualität geht zurück, es gibt Fluktuation, hohe Fluktuation, die Hälfte der Menschen werden gehen. Und das ist alles nicht eingetroffen. Wir hatten zwei Jahre lang gar keine Wechsel.

Welches Modell von Selbstorganisation wählen?

UK: Ihr habt euch dann für ein soziokratisches Modell entschieden.

FB: Ja, wir haben dann den Weg gemacht, welche Lösungen gibt es. Zwei Varianten ausgearbeitet. Die klassische Nachfolge, der Geschäftsleiter wird ersetzt durch eine andere neue Person. Oder den Weg mit so einem Modell. Wir haben eine Chancen-Risiken-Abwägung gemacht. Wir haben das mit unserer Trägerschaft besprochen. Wir sind als Verein organisiert. Wir haben uns dann gemeinsam entschieden, diese Variante 2 zu prüfen, ein anderes Modell. Wir haben dann gesagt, jetzt laden wir einfach Menschen von anderen Modellen ein. Wir haben dann vier Beratungspersonen eingeladen, die je ein Modell vertreten haben.

UK: So habt ihr euch Fachkundig gemacht. War dann der Stiftungsrat auch schon dabei? Oder Vorstand? Oder habt ihr das in diesem Team gemacht und seid dann zum Vorstand gegangen?

FB: Wir haben den grössten oder den längsten Weg ohne den Vorstand gemacht, nur in Absprache mit der Präsidentin. Und erst nachdem wir entschieden hatten, von uns aus, welches Modell, mit welcher Beratungsperson, erst dann haben wir den Antrag an den Vorstand gestellt, dass wir gerne die Variante 2 haben, nicht die Variante 1 klassische Nachfolger, sondern die Variante 2 und dass wir gerne einen zweijährigen Organisations-Entwicklungsprozess starten möchten. Das war dann der Antrag in anderen Vorstand.

Mitarbeitende in die Entwicklung einbeziehen

UK: Habt ihr dann verschiedene Modelle miteinander kombiniert bis zur heutigen Situation?

FB: Wir hatten schon damals die Inspiration von Kollegialer Führung, das war wirklich so mein Hauptbuch. Von dem habe ich sehr profitiert (Bernd Oestereich und Claudia Schröder (2016). Das kollegial geführte Unternehmen: Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen). Da gibt es auch Rollen, die man übernehmen kann oder Entscheidungsverfahren haben sie in ihrem ersten Buch gut beschrieben. Wir kannten natürlich die Soziokratie, aber das Buch, das gab es ja damals noch nicht (Barbara Strauch (2018). Soziokratie). Erst im Zuge zu merken mit dieser Soziokratie-Expertin kommen wir nicht weiter. Erst da habe ich dann gemerkt, es gibt ja noch Soziokratie 3.0 und das hat uns dann sehr geholfen, intern, um uns einen guten Weg zu ebnen und auch einen anderen Soziokratieberater zu finden, der mit Soziokratie 3.0 und Holacracy Erfahrung hatte.

UK: Das waren ja Führungskräfte im Transformationsprozess, Mittler bis Oberes Kader. Wie habt ihr es dann geschafft, das in der Organisation zu implementieren? Wie ist das in die Organisation eingedrungen?

FB: Wir haben uns immer sehr bemüht, dass die Mitarbeitenden der Geschäftsstelle, das ist bei uns noch die grosse Herausforderung gewesen, da sind 30 bis 40 Menschen auf einer Geschäftsstelle und dann über 200, die arbeiten dezentral. Und die Dezentralen, das war immer die Herausforderung, die wirklich auch gut in diesem Prozess mitzunehmen. Weil auf der Geschäftsstelle haben wir wöchentlich informiert, wo wir stehen im Prozess. Ich glaube, das gab es schon vorher, so ein gemeinsames Gefäss, jede Woche 20 Minuten. Es gab so kleine Instrumente wie einen Briefkassen, da konnte man anonyme Fragen stellen, wenn man das wollte, die wurden jede Woche beantwortet. Und dadurch, dass ein grosses Team, 10 Personen schon involviert waren im Prozess und auch, dass sie diesen in ihre Teams tragen konnten, war das nicht so schwierig, dass die Menschen mitgekommen sind.

UK: Diesen 20-Minütigen Workshop, den habt ihr heute noch, oder? Wie läuft das so?

FB: Ja, wir treffen uns jeden Donnerstag morgens um halb neun. Wir treffen uns inzwischen natürlich auch oft Digital. Früher war das immer physisch, jeden Donnesrtagmorgen. Und eigentlich war das ein Informationsgefäss, ein Inputgefäss. Und in der Oragnisationsenwtciklung war es wirklich immer der Stand der Dinge. Wo stehen wir?

UK: 20 Minuten?

FB: Ja, das geht nicht länger.

UK: Und heute, wie nützt du das heute?

FB: Heute sind es auch die Informationen, die kommen von den verschiedenen Kreisen. Alle Kreise können eingeben, was sie gesamthaft informiert haben wollen. Das kann kommen von, wir haben gerade den neuen Leistungsauftrag mit dem Kanton Luzern unterzeichnet, bis zu, räumt doch bitte wieder mal in der Cafeteria auf, also da ist alles möglich. Alle können sich anmelden, es gibt eine Traktandenliste und dann findet gegenseitiger Austausch statt. Man kann auch mal eine Frage stellen, Breakout-Räume machen, das kurz miteinander besprechen. Ja, sehr eine offene Runde.

Organisationssteuerung durch Kreise

UK: Jetzt eben, ihr habt Kreise gemacht, du hast einen Plan mitgebracht.

FB: Ja, wir haben Kreise gemacht. Wir zeichnen immer wieder neue Organigramme. Wir hätten gerne ein 3D Organigramm, aber haben wir noch nicht. Das ist das aktuelle Organigramm. Man sieht auf diesem Bild, dass die Kreise ganz viele Überschneidungen haben. Es ist nicht die klassische soziokratische Organisation. Aber was wirklich umgesetzt ist, alle Mitarbeitende sind in einem Kreis.

UK: Alle? Alle sind in einem Kreis. 200 Leute?

FB: 256, ja. Jede:r ist in einem Kreis, jeder Kreis hat eine Leitung. Und die Hierarchien der Kreise, die ist gegeben. Alle wissen, der oberste Kreis ist der Geschäftskreis. Und haben ihre Delegierten im Geschäftskreis.

UK: Ihr delegiert auch Leute in andere Kreise hinein, diese Schnittstellen werden so, wie es im soziokratischen Modell angedacht ist.

FB: Wir leben die doppelte Koppelung. die Teams wählen ihre eigene delegierte, welche in den nächsten höheren Kreisen kommen. Und weil man das da nicht sieht, im neuen Soziokratie-Buch gab es noch eine andere Darstellungsform. Und die habe ich mal gezeichnet, ich zeichne diese Dinge gerne zuerst einmal. Und die habe ich gezeichnet und mal in einer Info-Runde heisst dieses Gefäss am Donnerstag vormittag, habe ich die mal gezeigt. Und dann haben wir sogar lange, ich habe gesagt, jetzt verstehe ich es endlich. Hier sieht man eigentlich, wie entschieden wird, also von unten nach oben in den Kreisen. Das ist der grosse Bereich, da sind 200 Leute hier. Die kommen, können da in ihren Kreisen nach oben, hier sind kleinere Teams. Alle haben ihre Vertretungen im obersten Kreis im Geschäftskreis.

UK: Und wie häufig sich so Kreise treffen, das ist den Kreisen überlassen? Oder wie macht ihr das?

FB: Ja, das entscheiden die Kreise selber.

UK: Weil viele sagen, ja, da gibt es immer noch mehr so Treffen, hast du nicht den Eindruck, das ist viel mehr Koordinationsaufwand jetzt?

FB: Es ist schwierig zu sagen, ob es mehr ist. Sicher in der Soziokratie unterscheidet man ja Grundsatzentscheide und Ausführungsentscheide. Und so jetzt in den ersten drei Jahren würde ich schon sagen, für die Grundsatzentscheide haben wir mehr Zeit benötigt. Das Verfahren einzuüben, Konsent zu machen. Das brauchte sicher mehr Zeit. Gleichzeitig, mein Eindruck war, wir haben ja schon mit Konsent gearbeitet vor dem ersten 1.1.2020. Mein Eindruck ist, dass wir sofort weniger Zeit gebraucht haben, weil es in der Pause kein Geklöne, Gemotze, Reklamationen und Unzufriedenheit, weil man war ja dabei. Wenn man nicht dabei war, wusste man, wo man sich melden kann, wenn man mit einer Entscheidung nicht einverstanden ist. Ich glaube, wir brauchen viel weniger Zeit dafür, dass Mitarbeitende, sich irgendwo auseinandersetzen und sagen, da hat wieder jemand etwas falsch entschieden. Diese Zeit ist weggefallen.

Ein Modell, welches attraktiv ist für Mitarbeitende

UK: Würdest du sagen, dieses Organisationsmodell ist ein Vorteil auf dem angespannten Fachkräftemarkt oder erschreckt das Leute auch, wenn sie das so sehen? Hast du da schon Beobachtungen gemacht?

FB: Also einer der Treiber, neben dem dass der Gründer pensioniert wurde, war es schon für die neue Generation bereit zu sein. Das war auch ein Treiber dafür die Soziokratie einzuführen. Ich würde sagen, es gibt schon einen Marktvorteil. Im ersten Moment, wenn die neuen Mitarbeitenden kommen, dann fühlen sie sich doch herausgefordert bis überfordert, weil das sehr unvertraut ist, wie wir miteinander umgehen. Und gleichzeitig, ich mache so Onboarding-Spaziergänge, das ist mir wichtig von meiner Rolle her, dass ich alle, die in diesen Kreisen auf der Geschäftsstelle, inzwischen fast 50 Leute, dass ich die kennenlerne auf einem Spaziergang. Und da höre ich immer wieder, wenn ich die mache, ich mache die in den ersten drei Monaten, in der Probezeit, da höre ich immer wieder, „Also was mir auffällt hier Franziska, hier kommt jeder gerne arbeiten.“ Ich höre nie „Heute war ich nicht in Stimmung“.

UK: Das habe ich mal gelesen auf LinkedIn, das machst alle drei Monate, dass du mit den Leuten, die neu kommen, spazieren gehst?

FB: Also mit allen, wenn sie kommen innerhalb der ersten drei Monate, innerhalb ihrer Probezeit. Wir haben ein digitales Onboarding, da ist eine Boardkarte, ein Spaziergang mit der Geschäftsleitung.

UK: Was ist ein digitales Onboarding?

FB: Ein Selbst-Onboarding, wir nutzen MS-Teams als Software, da nutzen wir so Boards wie Kanbahnboards und da hat es Karten, da kann man selber, wenn man kommt, schauen, was muss ich jetzt tun, um mich selber einzuführen. Da steht zum Beispiel, schau dir diesen Film an, über die Fachstelle Kinderbetreuung oder lies die Chronologie der Fachstelle oder schaum mal in den Leitfaden Mitarbeitende oder mach den Spaziergang oder gehe mal hospitieren in einem anderen Team. Und dann kann die neue Mitarbeiterin das in ihrem Tempo abarbeiten.

UK: Das ist sehr ermächtigend, dass nicht eine Person führt mich durch, sondern ich habe so ein Tool und kann das selber zusammenstellen.

FB: Es gibt natürlich immer noch die Person, die mithilfe und führt. Es gibt sie immer noch, die die Übersicht behält, aber das Board ist wirklich eine Selbstermächtigung.

UK: Super.

Offene Wahl als Herausforderung

FB: Dann machen wir immer wieder Schulungen. Inzwischen finden wir die offene Wahl, etwas vom anspruchsvollsten. Zu Beginn fanden wir das das Einfachste und über die Jahre hat sich gezeigt, dass das wirklich etwas anspruchsvolles ist. Einerseits, wenn jemand nie gewählt wird, das sind unangenehme Situationen, andererseits auch, wenn die Gruppe nicht stark genug ist, um wirklich zu schauen, wer ist die bestgeeignete Person.Oft wird, wenn jemand sich selber zur Wahl vorschlägt, diese Person gewählt. Es fällt uns auch schwer, eigentlich wäre die Idee, dass man nicht im Voraus sagt, ob man die Aufgabe überhaupt will. Das fällt allen, vielen schwer, das nicht zu sagen. Und es gibt dann auch Unmut, wenn man eine halbe Stunde eine offene Wahl gemacht hat und die wird dann abgelehnt. Was haben wir es hier jetzt eine halbe Stunde gemacht, könnte man das nicht auch einfacher?

UK: Gleich zu Beginn sagen, dass man es nicht will. Das geht nicht.

FB: Genau, das geht nicht.

Entwicklungsgespräch statt Mitarbeitergespräch

UK: Noch ein ganz anderes Thema: Entwicklungsgespräch. Wir haben uns schon mal im Rahmen von unserer Selbstorganisationsgruppe darüber unterhalten. Du oder ihr habt ja mal so das Mitarbeitendengespräch über Bord geworfen und du hast hast oder ihr habt etwas eigenes entwickelt. Kannst du noch einmal in ein paar Sätzen sagen, was anders ist und zufrieden ihr seid mit dem?

FB: Wir haben ein sozokratisches Entwicklungsgespräch eingeführt. Das haben wir sogar schon vor 2020, haben wir das zur Proben begonnen. Das Soziokratische Entwicklungsgespräch, so im ersten Buch der Soziokratie, war das mit fünf Zeilen beschrieben. Und deshalb haben wir dann aus diesen fünf Zeilen gemacht, was uns gut erschien. Heute hat es ein ganzes Kapitel im neuen Buch. Also da ist mehr dazu nachgedacht worden. Das Wichtigste ist die Zusammensetzung im Gespräch. Das sind nicht einfach zwei Personen. Jetzt bei mir nicht einfach ich und meine Präsidentin, sondern es kommt immer grundsätzlich jemand aus der gleichen Ebene und jemand vom unteren Kreis. Das ist die klassische Anlage. Und die wird in den Teams auch gelebt. Das heisst, es ist immer jemand vom oberen Kreis, die Kreisleitung und jemand, den man wählen kann aus dem eigenen…

UK: Den ich selber wählen kann.

FB: Man kann selber wählen. Nur die Kreisleitung kann man nicht selber wählen, die anderen Personen kann man selber wählen.

UK: Und wer moderiert denn das Gespräch? Die Kreisleitung?

FB: Die Kreisleitung. Ja. Also bei mir jetzt die Präsidentin, wenn man sonst weiter in die unteren Kreise geht, dann ist es eine Teamleitung oder eine Abteilungsleitung, die das Gespräch moderiert.

UK: Und sonst sind es die Inhalte, aber wie beim Mitarbeitendengespräch, so im Sinne von, wie hast du dir entwickelt, wo hast du das Gefühl, dass Schwierigkeiten waren, was hast du für Entwicklungspotenzial oder sind die Inhalte ganz anders?

FB: Was vor allem anders ist, es ist hochstrukturiert. Es ist analog dem Konsent strukturiert, also mit Rede-Runden. Und zwar startet es die Kreisleitung, die Vorgesetzte, die präsentiert, was hat die Mitarbeiterin für Aufgaben und die legt man dann so auf den Tisch. Was hat sie für Rollen und Aufgaben? Das ganze Entwicklungsgespräch fokussiert auf diese Aufgaben.

UK: Dass man sich das nochmals klarmacht, in der Domäne von Geschäftsführung steht…

FB: Das und das. Also mit dem Stellenbeschrieb oder dem Rollenbeschrieb. Es geht nicht darum, einander zu sagen, ich arbeite gern mit dir. Das kommt nicht vor im Entwicklungsgespräch. Sondern: Das sind die Aufgaben. Wie hat Franziska diese gemacht? Und da gibt es zwei Runden. Die erste Runde, wir sagen dem Blumenschenken. Da geht es darum zu sagen, Würdigungen, was ist mir gelungen, in Bezug auf diese Aufgaben.

UK: Das sagst du von dir? Das sagen die Kollegen, wie sie dich erlebt haben, beim Erledigen dieser Aufgabe.

FB: Ja, und ich darf immer wählen, will ich zuerst Fremdbild oder will ich zuerst Selbstbild erzählen. Die meisten wählten in den ersten Jahren, immer zuerst das Fremdbild. Jetzt habe ich gehört, jetzt hat es gedreht. Jetzt sagt man zuerst über sich selber „Ich habe den Eindruck, das und das ist mir gut gelungen“. Da gibt es eine Runde. Manchmal machen sie auch zwei, je nachdem. Und dann wechselt man, dann gibt es eine zweite Runde. Wir sagen dem Giessen. Wo soll man die Pflanze noch ein wenig giessen? Auf was soll Franziska achten in der nächsten Zeit? Und da kann man auch selber starten, oder die anderen starten. Und dann höre ich von allen auch eine Rede-Runde, keine offene Diskussion, eine Rede-Runde, das ist wichtig: wo sehen sie Verbesserungspotenzial von mir? Und immer in Bezug auf diese Aufgaben, die da liegen.

UK: Und wie schliesst es dann ab?

FB: Und dann kommt das dritte, das machen wir immer alle gerne, dann stehen da so Punkte. Ich kann ein bis drei Dinge wählen, die ich aufnehmen möchte. Das ist dann meine Entscheidung. Und dann helfen alle mit, einen Entwicklungsplan zu erarbeiten. Das heisst, wie ich mich in diesem Punkt verbessern kann.

UK: Das habt ihr selber entwickelt?

FB: Ja, das haben wir ja selber entwickelt. Und der Entwicklungsplan ist dann immer schön. Dann habe ich alle, die hier sitzen, übernehmen eine Aufgabe. Manchmal muss ich da selber nichts tun. Nur wissen, was das Thema ist. Da kommen dann auch interessante Themen. Und dann schauen wir nach drei Monaten, organisiere ich ein Stand-up, mit allen, die hier im Rahmen sitzen und dann schauen wir nach drei Monaten, wo stehen wir. Also ist gelungen, wo braucht vielleicht nochmal eine Unterstützungsmassnahme. Und sonst ist es dann abgeschlossen nach diesen drei Monaten. Das bleibt dann nicht im Raum.

Wer ist am Entwicklungsgespräch beteiligt?

FB: Bei uns ist es so, dass meine Vorgesetzter, meine Präsidentin, die ist für das Entwicklungsgespräch gesetzt, aber die anderen Personen, die kann man wählen. Die Mitarbeitenden wählen selber jemanden aus ihrem Team und jemanden aus ihrem unteren Kreis. Das wählen sie selber, wen sie da nehmen. Und sicher, zu Beginn hat man Personen genommen, mit denen man vielleicht wusste, da bin ich in guter Arbeitsbeziehung, da fühle ich mich wohl. Jetzt nach ein paar Jahren höre ich aber auch immer wieder, man nimmt jetzt auch diejenigen Personen, mit denen man vielleicht gerade eine anspruchsvollere Zeit hat. Das betrifft bei uns vor allem auch die Zusammenarbeit zwischen Fachpersonen und Pflegeeltern. Wir haben ja angestellte Pflegeeltern. Da höre ich jetzt immer wieder, dass man auch Pflegeelter nimmt, die einen herausfordern und dass das Entwicklungsgespräch auch eine gute Möglichkeit ist, um mit den Pflegeeltern dann in eine andere Arbeitsbeziehung zu kommen. Weil es ist auch ein Vertrauensbeweis, wenn man in diesem Setting einander die Dinge sagen kann, die man gut findet, die gut verlaufen und Dinge, die man verbessern sollte.

Agil bleiben: die weitere Entwicklung

UK: Wo steht ihr denn jetzt? In der Entwicklung zur Selbstorganisation, seid ihr schon weit fortgeschritten oder? Was sind denn noch Zukunftspläne? Habt ihr das Gefühl, ihr seid jetzt da, wo ihr hinwolltet?

FB: Da ist immer die Frage von Selbstbild und Fremdbild. Das Selbstbild haben wir letzten In September wieder mal mit allen von unserer Geschäftsstelle abgeholt. Was würdet ihr nicht mehr hergeben von dem, was wir erreicht haben? Wofür hat es sich gelohnt die ganze Entwicklung? Und da war es schön, zu sehen, dass Stichworte kommen, wie die Wertschätzung. Jeder kann sich beteiligen, die Wissensverbreiterung. Dann aber auch die Instrumente wie Boards, wie Rollen, wie Stand-ups. Wir machen sehr oft Stand-ups für kurze Besprechungen. Da gibt es vieles, das würde man nicht mehr hergeben. Was unsere nach wie vor schwieriger Stelle ist, und der Vorstand, der da zuoberst ist, der ist immer noch hierarchisch unterwegs. Und wir konnten zwar die doppelte Koppelung sicherstellen, es gibt nicht nur mich als beratende Stimme im Vorstand, sondern auch eine Kollegin, die gewählt wird. Aber wir sind nicht vollwertige Kreismitglieder im Vorstand.

Struktur erzeugt Verhalten

UK: Wie du es erzählst, Franziska, das tönt ja sehr überzeugend bei euch, aber man könnte auch ketzerisch sagen, du hast einfach sehr gute Mitarbeitende gehabt und deshalb ging das so leicht. Siehst du das auch so?

FB: Nein, das sehe ich nicht so. Für mich gibt es einen Satz für Soziokratie „Struktur erzeugt Verhalten“. Ändert man die Struktur, ändert sich das Verhalten. Ich war schon vorher angetan von diesem Satz und jetzt nach 3,5 Jahren bin ich zu tiefst überzeugt: ja, das ist so. Es geht darum, gute Strukturen zu verfügen zu stellen, dann entwickeln sich die Mitarbeiter:innen auch und entfalten ihr Potenzial, können ihnen kompetenzengemäss Dinge übernehmen. Und für mich ist es ja schön zu sehen, ich habe die gleichen Leute vorher nachher. Wir sind gemeinsam in diese neue Phase hineingegangen. Wir hatten die ersten zwei Jahre keine Fluktuation. Und ich erlebe diese Mitarbeitenden, wie sie sich anders entwickeln, neue Dinge beginnen und andere Kompetenzen leben können.

Drei Aspekte, die man vor der Einführung von Selbstorganisation beachten sollte

UK: Jetzt hat jemand unser Video geguckt und denkt „Oh! So etwas möchte ich auch bei uns einführen“. Was würdest du dieser Person als drei zentrale Themen mitgeben, die man sich vorher gut überlegen muss, bevor man in so ein Projekt einsteigt? Gibt es drei zentrale Dinge, die du da rauskristallisieren kannst?

FB: Es kommt etwas darauf an, in welcher Position diese Person ist, wenn ich die Antwort gebe. Also man kann in jeder Funktion und Position Tools verwenden von Soziokratie 3.0. Das sind einfache Tools, die sind gut beschrieben. Es ist eine Open Source Community. Da kann man einfache Tools jederzeit anwenden, wenn man das möchte. In einem Team, ohne dass sich die ganze Organisation ändert.

UK: Also man muss nicht die ganze Organisation, sondern man kann nach einzelnen Teilen umstellen.

FB: Zum Beispiel Rederunden, das kann man überall einführen. Ja, der zweite Punkt. Der zweite Punkt ist, wenn man das wirklich über die ganze Organisation machen will so ein Modell, das geht nur top down. So seltsam sich das anhört, mein Fazit ist, Selbstorganisation geht nur top down. Es braucht jemandem im Top, die überzeugt ist und einen langen Atem hat. Die es nicht macht und dann verschwindet, sondern die einen langen Atem hat.

UK: Das wäre schon 2B einen langen Atem haben.

FB: Ja, genau.

UK: Und der dritte Punkt?

FB: Der dritte Punkt, ich empfehle, ganz gut zu schauen, wenn man ein Modell nimmt, als Orientierung, ich finde, das ist hilfreich, nicht einfach auf der grünen Wiese, es gibt gute Modelle, aber wenn man ein Modell als Orientierung nimmt oder sogar das ganze Paket nimmt, dann muss man gut schauen: passt das Menschenbild oder die Werte, die das Modell verkörpert, zu den Werten oder dem Menschenbild oder dem Leitbild der eigenen Organisation. Das muss möglichst nahe sein. Wenn sich das reibt, dann klatscht das immer aneinander und es gibt möglicherweise auch viel Widerstand. Für mich ist es die Hauptbegründung, wir hatten keinen Moment Widerstand von den Mitarbeitenden. Und ich glaube, die Haupthypothese von mir ist, das Modell Soziokratie passt zu unserem Leitbild, zu unserem Menschenbild, zu unseren Wertvorstellungen. Das ist ganz nahe, ganz nahe an sozialer Arbeit. Und deshalb gab es keinen Widerstand und das ist wie mitgeflossen. Es hat sich sofort integriert.

UK: Gut. Vielen Dank, Franziska Beer, es war spannend, dir zuzuhören. Weiterhin gutes Gelingen bei der Umsetzung.

FB: Dankeschön, danke fürs Interview.

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Urs Kaegi (Alle Beiträge sehen)

em. Professor der Fachhochschule Nordwestschweiz, selbständiger Coach und Organisationsberater

Schwerpunkte: Kooperation in Organisationen, organisationaler Wandel

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Bitte beachten Sie, dass nicht alle eingesandten Bücher in die Literaturempfehlungen aufgenommen werden können. Dafür bitten wir um Verständnis.

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Ursula Meyerhofer (Alle Beiträge sehen)

Selbstständige Organisationsberaterin.

Beratung für Firmen und Non-Profit-Organisationen.

https://www.menschundzukunft.com/

Franziska Beer (Alle Beiträge sehen)

Geschäftsführerin, Fachstelle Kinderbetreuung Luzern

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